Irmela Wiemann. Wie viel Wahrheit braucht mein Kind?
– Leseprobe

«Zu verstehen, wo man herkommt, was hinter uns liegt, ist der erste Schritt, um ohne Lügen vorwärts gehen zu können»
(Tamaro, 1995, S. 165)

Vorwort

Was soll ein Kind wissen, was kann es seelisch verkraften und was soll es besser nicht wissen? Woran beteilige ich mein Kind und wo halte ich es heraus? Wann ist der geeignete Zeitpunkt, ein Kind mit einer besonders schmerzlichen Wahrheit zu konfrontieren? Diese und viele ähnliche Fragen werden mir bei Fortbildungen oder nach Vorträgen gestellt. Während meiner langjährigen psychologischen und therapeutischen Tätigkeit habe ich erfahren, dass Kinder die Wahrheit gut vertragen können – oft besser als Erwachsene. Geheimnisse belasten Eltern und Kinder meist mehr, als die Kenntnis der Wahrheit. Allerdings kommt es darauf an, mit welchen Worten den Kindern schwierige Sachverhalte vermittelt werden. Wenn die Erwachsenen mit bestimmten Konflikten, Ängsten, Affekten selbst nicht im Reinen sind, dann kann die Art, wie die Wahrheit ausgesprochen wird, für ein Kind belastend sein. Ob und wie Kinder die Wahrheit «vertragen» und damit leben lernen, hängt davon ab, ob die Erwachsenen mit dem Schmerz und den Konflikten umgehen können, die mit dieser Wahrheit verbunden sind. Und manches muss in kindliche Sprache, in kindliche Bilder übersetzt werden. Manche Ereignisse wiegen so schwer, dass wir je nach Alter und Reife des Kindes die Informationen dosieren müssen.
Ich wollte in diesem Buch darüber informieren, wie wir Kindern gegenüber aufrichtig sind und damit ein gutes Vorbild. Doch es wurde in Teilen ein Buch über die Wirkung von kleinen und großen Lügen und Geheimnissen. Dabei ist es nicht meine Absicht, Leserinnen und Leser zu überführen, wohl aber, sie nachdenklich zu machen. Ich verstehe gut, weshalb Menschen hin und wieder nicht wagen, Kinder in kleinen und großen Fragen mit der Wahrheit zu konfrontieren. Die Sorge, seinem Kind weh zu tun, ist nur allzu berechtigt. Kinder sind verletzbar, schutzbedürftig, und wir Erwachsenen möchten Leid vor ihnen fernhalten. Zugleich sollten wir uns fragen, inwieweit wir den Schutzgedanken vielleicht benutzen, um uns selbst zu schützen, um vor einem eigenen Schmerz zu flüchten oder um einem Kind Harmonie und heile Welt vorzuspiegeln.
Die Sehnsucht, Kindern eine «normale» Familie zu präsentieren, ist bei manchen Eltern sehr stark. Deshalb nehmen Kinder in besonderen Familienkonstellationen einen breiten Raum in diesem Buch ein. In früheren Jahren war eine nichteheliche Geburt mit gesellschaftlicher Ausgrenzung und Geheimhaltung verbunden. Heute sind es Themen wie die Entstehung eines Kindes durch die Samenspende eines Fremden. Doch auch in Stieffamilien wird manchen Kindern nicht gesagt, dass ihr Vater, mit dem sie leben ein anderer ist, als derjenige, der sie gezeugt hat.
Seit mehr als zwanzig Jahren arbeite ich mit Pflege- und Adoptivkindern, ihren Herkunftseltern und ihren annehmenden Eltern. In der Arbeit mit diesen Familien ist der Umgang mit der Wahrheit ein ganz entscheidendes Thema. Oftmals wagen Mütter, die ihr Kind zur Adoption gaben, späteren Partnern und ihren weiteren Kindern nichts von dem früheren schmerzlichen Schritt zu erzählen. Kinderlose Paare, die ein Kind angenommen haben, möchten auch heute noch manchmal ausblenden, dass ihr Kind von anderen Menschen abstammt.
Beim Schreiben dieses Buches geriet ich oft in Zweifel. Konnte ich vermitteln, dass Eltern einerseits transparent und ehrlich gegenüber Kindern und Jugendlichen sein können und andererseits ihre Kinder nicht in Erwachsenenkonflikte hineinziehen sollten? Und wenn ich Menschen ermutige, Kindern gegenüber auch schwere Lasten des Lebens auszusprechen, konnte ich verständlich machen, dass die Vorraussetzung für ein verträgliches Aussprechen der Wahrheit die gute Beziehung zum Kind und die innere Haltung des Erwachsenen ist?
Wer heute jünger als dreißig ist, kennt meist keinen Klapperstorch mehr. Unsere gegenwärtige Elterngeneration hat sich von den Praktiken der schwarzen Pädagogik entfernt, die Kinder durch Lügen und Manipulation einschüchterten. Doch mehr oder weniger kleine und größere Relikte sind immer noch in uns. Deshalb beginnt das Buch mit «Kleinen Lügen des Alltags», wie sie jedem und jeder von uns schon über die Lippen gekommen sind. Es geht hier nicht um die positiven Formen kleiner Lügen, die selbstverständlich niemandem schaden, z.B. wenn wir eine Überraschung planen, sondern um jene, die Kinder verwirren können.
Ob unsere Eltern uns angeschwindelt haben, ob es Geheimnisse und Lasten gab, über die geschwiegen wurde, beeinflusst, wie aufrichtig wir mit unseren Kindern sind. Durch unsere eigene Prägung erleben es viele von uns als selbstverständlich, Kindern etwas vorzumachen. Denken wir nur, was uns täglich in etablierter Politik und in den Medien vorgetäuscht wird: Es ist offensichtlich ein kultureller Erwachsenkonsens, dass Lügen und Belogenwerden zur Tagesordnung gehören. Sonst würden sich viele Menschen wesentlich weniger bieten lassen und sich heftiger gegen verlogene Inszenierungen in Gesellschaft und Politik zur Wehr setzen.
Dabei ist Lügen an sich nicht etwa verwerflich. Geheimhaltung, Lügen und Verstecken haben im Nazideutschland, in Diktaturen und manch anderem menschenfeindlichen Regime Menschenleben gerettet. Die Lüge vom Unterlegenen gegenüber Mächtigeren kann Schutzfunktion haben. Wenn Kinder und Jugendliche durch eine Lüge gegen Erwachsene zusammenhalten, so kann dies eine positive Grenzziehung bedeuten. Lügen kann überall dort angemessen sein, wo eine Trennlinie erforderlich ist, wo kein Vertrauensverhältnis erwünscht ist. Belügen hingegen Erwachsene ihre Kinder, so schwächen sie damit fast immer das Vertrauensverhältnis. Aufrichtigkeit hingegen stärkt das Vertrauen von Kindern in ihre Eltern. Dies aufzuzeigen, ist mein Anliegen in diesem Buch.
Ich zeige an vielen konkreten Beispielen, mit welchen Worten kleinere und große Belastungen des Lebens Kindern so vermittelt werden können, dass sie daran reifen und wachsen können. Es gibt Beispiele, die das Leben aller Kinder betreffen und Beispiele für Eltern und Kinder, die ganz spezifische Situationen zu bewältigen haben. Sie können als Leserinnen und Leser die Themen wählen, die denen Ihrer Familie ähneln, um so für sich Parallelen zu ziehen und für Ihre eigene Situation und Ihre Kinder möglichst viel Anregung zu finden.
Ich danke allen, die mir durch ihr Vertrauen ermöglicht haben, die in dieses Buch einfließenden Erfahrungen zu gewinnen. Vieles habe ich von Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern gelernt. Beispiele einzelner Kinder und Familien, die in diesem Buch dokumentiert werden, wurden entweder so verändert, dass sie nicht wiedererkannt werden können, oder es liegt die Einwilligung der Betroffenen vor, ihre Situation hier zu schildern. Ähnlichkeiten mit Ihnen bekannten Menschen sind zufällig, da ich manchmal besonders typische Beispiele ausgewählt habe. Ganz besonders danke ich Müttern, Vätern, Pflege- und Adoptiveltern, die mir «Lebensbriefe» zur Verfügung gestellt haben. Schließlich danke ich allen, die mir im Vorfeld durch kritisches Lesen und Diskutieren beim Entstehen des Buches geholfen haben: Ingrid Jastremski, Volker Jablonski, Brigitte Kaetzke, Ulrike Prange, Brigitte Rieck, Eva Ris, Otto Salmen und Gerda Stößinger.

Irmela Wiemann, im November 2000


Teil 1: Wie Aufrichtigkeit die Beziehung zwischen Eltern und Kindern beeinflusst

«Es gibt viele Familien, in denen nicht gelogen wird. Aus ihnen kommen offenherzige Kinder mit klaren Augen.»
(Neill, 1993, S.153)

Kleine Lügen des Alltags – Normalität in vielen Familien?

Die Leute schimpfen

Der 18 Monate alte Jonas läuft in einem Lokal von Tisch zu Tisch und kokettiert mit den anderen Gästen. Die Mutter ruft: «Jonas, komm zurück. Die Leute schimpfen.» Jonas hingegen erlebt, dass die Leute ihn freundlich anlachen.

Eine kleine Ungenauigkeit im Umgang mit der Wirklichkeit. Der Mutter ist in diesem Augenblick nicht klar, dass sie dem Kind etwas vormacht. Sie will ihm die Freude nicht verderben, und sie will Rücksicht auf die anderen Gäste nehmen. Sie glaubt, dass Jonas vor den fremden Erwachsenen mehr Respekt hat als vor ihr. Und sie muss sich beim Kind nicht unbeliebt machen. Verantwortlich sind nun «die Leute».
Auf der Verhaltensebene hat die kleine Umdeutung der Wirklichkeit Erfolg. Jonas kommt zur Mutter an den Tisch. Aber für ihn gibt es ein Rätsel. Ein eineinhalbjähriges Kind weiß bereits, dass Menschen, die schimpfen, nicht gleichzeitig mit dem Kind freundlich lachen.

Die Hypothese der Kleinkinder: Geliebte Erwachsene irren nicht

Die Worte der Mutter sind für Jonas wahr, ein Grundgesetz des Lebens. Irrtum ist ausgeschlossen. Jonas kann seine Beobachtung, dass die Leute lachen, der Mutter nicht entgegensetzen. Ein eineinhalbjähriges Kind ist noch nicht kritikfähig. Kritikfähigkeit ist aber die Voraussetzung dafür, etwas zu prüfen oder zu hinterfragen, was unser Gegenüber sagt. So kommt Jonas zu dem Schluss: Sein Eindruck, dass die Leute ihm freundlich zunickten, war falsch. Warum hat er nicht gemerkt, dass die Leute in Wirklichkeit schimpften? Er darf seinen Wahrnehmungen nicht trauen. Er kann sich nicht auf das verlassen, was er erlebt, fühlt, hört und sieht.
Leon Festinger hat im Rahmen seiner sozialpsychologischen Theorie zum menschlichen Entscheidungsverhalten 1957 auf das Phänomen der «kognitiven Dissonanz» aufmerksam gemacht. Kognitive Dissonanz bedeutet die Nichtübereinstimmung von Wahrnehmungen oder Einstellungen oder Informationen. Er wies nach, dass es beim Menschen zu Unbehagen und Spannung kommt, wenn Wahrnehmungen und Haltungen als unvereinbar, als dissonant, erlebt werden. Jonas hat eine typische kognitive Dissonanz erlebt. Er bekam von der Mutter die Information, die Leute würden schimpfen, er selbst sah, dass sie lachten. Erwachsene Menschen entscheiden sich in diesem Konflikt meist dafür, die bisherige Meinung und das bisherige Wissen als richtig anzunehmen. Die nicht stimmige Information wird abgewehrt oder nicht beachtet. Kleinkinder können genau dies noch nicht.

Wie Kleinkinder auf Widersprüche in der Wahrnehmung reagieren

Stimmen Beobachtungen, Wahrnehmungen und Gefühle des kleinen Kindes nicht mit dem überein, was der oder die Erwachsene äußert, dann stellt das Kind bis zu etwa drei Jahren die eigenen Beobachtungen zurück, löscht sie quasi aus, zugunsten der Information des Erwachsenen. Im Zweifel vermutet das Kind, dass das, was es selbst sieht und hört, falsch ist und der Erwachsene richtig liegt. Diese «Gutgläubigkeit» der kleinen Kinder, die absolute Bereitschaft, das Äußerungen der Erwachsenen für wahr zu halten, bewirkt, dass Erwachsene so erfolgreich sind, wenn sie kleinen Kindern etwas vortäuschen.
Das Infragestellen der eigenen Wahrnehmung zugunsten der Information des geliebten Erwachsenen, bleibt aber nicht spurlos, strengt Kinder an, erzeugt Spannung und Unsicherheit. Manche Kinder bekommen Angst und müssen sich besonders eng an Erwachsene anklammern, da sie ja mit ihrem nicht stimmigen Bild von der Welt und ihrem nicht gut funktionierenden Wahrnehmungssystem nicht ohne den nahen Erwachsenen auskommen können. Viele Menschen haben schon als kleines Kind verlernt, Zusammenhänge korrekt zu verknüpfen. Kinder, die ständig etwas erfinden, selbst fest daran glauben, es könne so gewesen sein, Kinder die leugnen, sich etwas ausdenken, tun dies oftmals auch, weil sie durch frühe, desorientierende Erfahrungen daran gehindert wurden, Klarheit und Sicherheit im Umgang mit der Wirklichkeit zu erwerben.
Oft wissen wir hinterher besser, was wir in der akuten Situation hätten tun können. Jonas' Mutter wird klar: Sie hätte mehrere Möglichkeiten gehabt, die Situation ohne eine kleine Lüge zu lösen.

  • Sie hätte beschließen können: Ich will jetzt keinen Konflikt mit Jonas, also stelle ich die Sorge, die Leute könnten sich genervt fühlen, zurück und lasse das Kind gewähren.
  • Oder sie hätte Ihre Sorge, Jonas könnte den Gästen zur Last fallen, direkt mit den Leuten klären können, indem sie die Leute gefragt hätte, ob es sie stört, wenn Jonas mit ihnen Spaß macht.
  • Sie hätte auch abwarten können, bis die Leute tatsächlich ungeduldig geworden wären. Dann hätte ihre Aussage gegenüber Jonas «Komm zurück, die Leute schimpfen» mit der Realität übereingestimmt.
  • Am besten wäre gewesen, sie hätte Jonas in seiner Wahrnehmung bestärkt und ihm ihre Forderung ohne Zögern entgegengesetzt: «Es gefällt dir, dass die Leute dich beachten und freundlich mit dir lachen, aber es wird den Leuten gleich zuviel, komm bitte zurück, und bleibe an unserem Tisch.»
Die Hemmung mancher Eltern, ihrem Kind etwas entgegenzusetzen

Jonas' Mutter wird dabei klar, wie schwer es ihr fällt, ihrem Kind ein «Ich will das jetzt» oder ein «Ich will das nicht» abzuverlangen. Es kostet weniger Aufwand und Energie, dem Kind eine kleine Lüge aufzutischen. Natürlich ist es anstrengender, Interessenwidersprüche zwischen Kind und Erwachsenem auszutragen.
Menschen mit diesem Problem gehen unbewusst davon aus, dass elterliche und kindliche Interessen immer einander decken müssen. Sie fühlen sich im Unrecht, wenn sie Nein sagen. Das wiederum spürt das Kind und sein Protest wird entsprechend heftig. Solche Kinder ertragen kaum mehr Frustration. Die Eltern geben immer wieder nach. Dies sind Prozesse, die sich über Schulzeit und Jugendzeit bis in das Erwachsenenalter fortsetzen können. Oftmals wollen diese Kinder später jede Anstrengung vermeiden und nur das tun und lernen, wozu sie gerade Lust haben. Manchmal wird hier früh die Grundlage für spätere Abhängigkeits- und Suchtprobleme gelegt.
Kinder, die so groß geworden sind, werden später oftmals wieder zu Erwachsenen, die nicht neinsagen können. Es fällt ihnen dann schwer, anderen Menschen gegenüber klar Position zu beziehen, weil sie befürchten, abgelehnt zu werden, wenn sie eine andere Meinung äußern.

  • Die innere Bindung, die wirklich sicher ist, lässt sich nicht gefährden, indem ich meinem Kind eine andere Position entgegensetze. Das Gegenteil ist der Fall: Es schafft Sicherheit, wenn das Kind erfassen kann, woran es wirklich ist und dass die Liebe zueinander nicht bedeutet, konfliktfrei miteinander leben zu müssen. Je leichter Bezugspersonen diesen Prozess in sich selbst zulassen, desto besser wird die Grenze vom Kind akzeptiert.
  • Kinder, deren Eindrücke, Wahrnehmungen und Gefühle vom Erwachsenen einerseits bestärkt werden und die dann aber mit einem klaren Nein oder «ich will das so» konfrontiert werden, können später als Erwachsene selbst besser Grenzen ziehen. Für sie ist es in Ordnung, dass zwei nahestehende Menschen verschiedene Interessen haben, ohne dass ihre Beziehung gefährdet ist oder etwas Bedrohliches passiert.

Die Nachbarin schläft

Wenn die 2-jährige Janina die Nachbarin im Garten sieht, geht sie zum Zaun, ruft freudig «Hallo» und fragt nach Erdbeeren oder Himbeeren. Das ist inzwischen ein kleines Ritual zwischen Janina und der Nachbarin geworden; danach geht sie zu ihrer Mutter und zeigt, was sie bekommen hat. An einem Sonntagmittag, als die Nachbarin sich in ihrem Garten sonnt, will Janinas Mutter verhindern, dass die Kleine zum Zaun geht. Sie sagt: «Bleib hier! Nicht stören.» Und als Janina dennoch auf den Zaun zusteuert, erklärt sie: «Frau Klein schläft.» Janina blickt von weitem fragend zur Nachbarin. Die winkt ihr freundlich und einladend zu und ruft: «Hallo, Janina!» Janinas Hallo kommt nur leise und zögernd zurück. Dann kommt der Vater nach Hause. Er begrüßt die Nachbarin laut und munter. «Psst, Frau Klein schläft», sagt Janina. «Die lacht doch gerade. Soll das Schlafen sein?» meint der Vater. Skeptisch, fast böse, blickt Janina zur Nachbarin. Sie geht für den Rest des Sommers nicht mehr zum Zaun!

Janinas Mutter hat versäumt, dem Kind zu bestätigen, dass die Nachbarin wach ist, weil sie damit erreichen wollte, dass Janina nicht zum Zaun geht. Sie wollte Rücksicht auf die Nachbarin nehmen. Aber Janina weiß mit zwei Jahren bereits, dass schlafende Menschen nicht winken und rufen. So wie Jonas und alle kleinen Kinder ist auch Janina noch nicht kritikfähig, sie kann ihre eigene Beobachtung, dass die Nachbarin wach ist, der Mutter nicht entgegensetzen. Janina ist ärgerlich, dass die Nachbarin sich nicht gemäß den Worten der Mutter verhält und gibt dieser dafür die «Schuld». Durch die Richtigstellung des Vaters wird Janina nun erst Recht verwirrt. Im Kind ist durch den unlösbaren Widerspruch Unbehagen und Spannung entstanden. Sie will und kann den Worten der Mutter nicht misstrauen, sie kann Vaters Richtigstellung nicht gut einbauen. Am besten misstraut sie der Nachbarin, die Janina schließlich in all die Schwierigkeiten gebracht hat.
Dies ist ein Beispiel, wie Kinder ganz schnell zu falschen Verknüpfungen von Ursache und Wirkung und damit zu Fehleinschätzungen der Wirklichkeit kommen können.

Wenn Eltern gegenüber anderen Leuten nicht unangenehm auffallen wollen

Ein Kleinkind lässt sich meist nicht ohne Protest eine Lustquelle fortnehmen. Wir können nicht beides haben: Dem Kind ein Vergnügen nehmen und dazu seine Einwilligung bekommen. Mütter oder Väter sollten lernen, die Gefühle des Kindes, Zorn und Enttäuschung, zu respektieren. Sinnvoll ist es, das Kind zu trösten, z. B.: «Es ist okay, dass du jetzt wütend bist und weinen musst. Trotzdem gebe ich nicht nach.»
Das Unangenehme dabei ist: Bricht unser Kind in Tränen aus oder schreit laut, dann ist uns dies vor anderen Leuten peinlich. Jonas' Mutter wollte im Cafe vor den anderen Leuten kein Protestgeschrei. Janinas Mutter wollte ihr Kind vom Zaun der Nachbarin fernhalten. Wir möchten Rücksicht nehmen. Alle Eltern befinden sich ständig in diesem Spannungsfeld. Wenn ich den Konflikt mit meinem Kind austragen will, muss ich riskieren, mit andern Menschen in Konflikte zu kommen.

  • Wenn ich «um des lieben Friedens Willen» nachgebe oder eine kleine Lüge erfinde, um mein Ziel indirekt zu erreichen, habe ich zwar im Augenblick für Entspannung gesorgt, langfristig aber dazu beigetragen, dass das Kind zahlreiche neue Konflikte haben wird.
  • Bevor Eltern ihr Kind durch einen Trick steuern wollen, sollten sie bedenken: Die Leute, für die wir uns so anstrengen, helfen uns nicht, wenn wir wegen ihnen unser Kind nicht gut auf sein Leben vorbereitet haben.

Der Weihnachtsbaum ist im Urlaub

Die Weihnachtszeit ist vorbei. Die Mutter hat den 20 Monate alten Robin mit zum Einkaufen genommen. Der Vater nutzt die Abwesenheit Robins, den Weihnachtsbaum abzuschmücken und fortzuschaffen. Wieder zu Hause, ist Robin bestürzt, weil der Baum nicht mehr da ist. Die Mutter rechtfertigt sich: «Der Baum hat schon die Nadeln verloren, das ist nicht schön, wenn Nadeln am Boden liegen.» Dann fügt sie hinzu: «Der Baum war alt, müde und krank, der musste fort.» Der Vater sagt: «Der Weihnachtsbaum ist im Urlaub und nächste Weihnachten kommt er wieder.»

Für das Kleinkind ist es selbstverständlich möglich, dass ein Weihnachtsbaum in Urlaub gefahren ist oder müde und krank ist, so wie es die Eltern Robin gegenüber dargestellt haben. Kleine Kinder sind bereit, von der realen Welt in die Phantasiewelt überzuwechseln. Robins Eltern nutzen hier die Bereitschaft kleiner Kinder zum magischen Denken, um davon abzulenken, dass sie dem Kind eine unangenehme Überraschung zugemutet haben. Aus ihrem schlechten Gewissen heraus redeten sie dem Kind ein, die Erwachsenen seien am Verschwinden des Baumes überhaupt nicht beteiligt gewesen. Verantwortlich sei der Baum selber.

Kinder wollen Orientierung

Wenn Robin öfter mit solch widersprüchlichen Informationen überschüttet wird, kann es sein, dass er später selbst von ein und demselben Geschehen verschiedene Varianten anbietet. Aber es kann auch passieren, dass Robin in nächster Zeit nicht gern mit der Mutter zum Einkaufen fahren will: Schließlich hat er dann keine Kontrolle, ob nicht wieder geliebte Gegenstände sich selbständig machen und in Urlaub fahren.
Wir alle kennen die Unermüdlichkeit, die Ernsthaftigkeit, mit der kleine Kinder über den ganzen Tag hinweg Beobachtungen und Annahmen der Welt mit dem oder der nahen Erwachsenen austauschen. Das Kind ist zufrieden, wenn die Erwachsenen das Gesehene, Gehörte, Erlebte, Gefühlte, bestätigen und wiederholen und das Kind in seiner Erfahrung bestärken. Das Wahrgenommene in Übereinstimmung mit dem nahen Erwachsenen zu bringen, schafft für sie Sicherheit und Selbstvertrauen.
Die französische Kinderanalytikerin Françoise Dolto stellt einen Zusammenhang her zwischen Wahrnehmungsstörungen und Teilleistungsschwächen bei Kindern und dem Belogenwerden durch Erwachsene: «In der Tat ist bei manchen Kindern nicht nur die visuelle Wahrnehmung, die mit der auditiven Wahrnehmung verschränkt ist, durch die frühe Erziehung in Unordnung gebracht worden. Auch viele andere richtige Wahrnehmungen der Kinder werden von Eltern in Unordnung gebracht oder verleugnet, die, ohne etwas Schlechtes dabei zu denken, mit ihren Lügen alles verwirren.» (Dolto in: Van den Brouck, 1990, S. 118).

  • Statt der kleinen Lüge ist es für Robins Entwicklung besser, wenn der Vater aushält, dass sein Kind eine Weile verzweifelt ist und wenn er Robin darin bestärkt, dass sein Kummer berechtigt ist: «Ich versteh, dass du traurig bist. Jetzt kommt erst nächstes Weihnachten wieder ein Baum ins Haus.»
  • Der Vater kann auch übergeordnete Gesetzmäßigkeiten anführen: «Weihnachten ist vorbei. Nur an Weihnachten holen Menschen einen Baum ins Haus und schmücken ihn. Die Weihnachtsbäume müssen auch bei allen anderen Kindern raus.»
  • Es spricht nichts dagegen, die Phantasiewelt zur Hilfe zu nehmen, um dem Kind das Verschwinden des Baumes erträglicher zu machen. Doch für Robin muss erkennbar bleiben, dass seine Eltern sich gerade nicht auf dem Boden der Realität befinden. Die Mutter hätte sagen können: «Wenn der Baum sprechen könnte, hätte er gesagt, ich muss jetzt fort. Meine Nadeln fallen ab, Weihnachten ist vorbei. Aber der Baum kann das nicht sagen. In Wirklichkeit hat Papa ihn weggeworfen. Nächstes Jahr wird ein neuer Baum aus dem Wald geholt.»

Und Nathalie bringe ich auch gleich weg

Der 5-jährige Jan hat ein 1-jähriges Schwesterchen, Nathalie. Morgens vor dem Kindergarten beschwert er sich öfter bei seiner Mutter: «Ich muss immer in den doofen Kindergarten und die Nathalie darf gemütlich bei dir zuhause bleiben!» Als Jan sich wieder einmal beklagt, erklärt ihm die Mutter: «Für Nathalie habe ich jetzt einen Krippenplatz. Das ist der Kindergarten für Babys.» Jeden Morgen, wenn sie Jan im Kindergarten abliefert, beteuert sie: «Und Nathalie bringe ich auch gleich weg.» In Wirklichkeit nimmt sie Nathalie wieder mit nach Hause. Wenn Jan zu seiner Erzieherin sagt, «Nathalie ist in der Kinderkrippe,» dann bestätigt diese auf eindringlichen Wunsch der Mutter: «Ja, sie ist in der Kinderkrippe.» Den Kindergärtnerinnen fällt auf, dass Jan oft lange braucht, bis er etwas Neues begreift. Jan sei öfter «begriffsstutzig».

Die Erzieherinnen halten auf Wunsch der Mutter das Lügengebäude aufrecht. Sie fühlen sich dabei unbehaglich. Dieses Gefühl wird von Jan wahrgenommen. Seine Fähigkeit, sich in der Welt zu orientieren, ist bereits eingeschränkt. Möglicherweise hat Jans Begriffsstutzigkeit damit zu tun, dass es für seine Mutter selbstverständlich ist, ihm bestimmte Wahrheiten vorzuenthalten. Die unausgesprochene Richtlinie seiner Mutter heißt: Ich bestimme, was wahr ist oder falsch, du bist dafür nicht zuständig.

Das Bedürfnis, kindliche Gefühle zu steuern

Jans Mutter hat – wie viele Eltern – den dringlichen Wunsch, ihrem Kind eine unbequeme Lebenssituationen zu ersparen. Sie möchte verhindern, dass er eifersüchtig wird. Sie will Jan eine problemlose Welt präsentieren und damit  ihrem Kind beweisen, dass sie eine gute Mutter ist. Ohne sich darüber klar zu sein, ist es für Jans Mutter normal, Jan zu steuern, ihn zu manipulieren, anstatt ihm das Selbstverständliche abzuverlangen und zuzumuten.
Für jedes erste Kind ist nicht einfach, die Eltern mit einem Geschwisterchen zu teilen. Es ist auch angemessen, wenn das Kind eifersüchtig reagiert. Jan braucht die Akzeptanz seiner Mutter, auch negative Gefühle haben zu dürfen. Und sie kann ihr schlechtes Gewissen abbauen, wenn sie sich bewusst macht: Das Kind, das ein jüngeres Geschwisterchen bekommt, verliert nicht nur, es bekommt auch etwas. Jan hat in Nathalie eine Gefährtin für das ganze Leben. Eltern sollten ihre ungleichen Kinder nicht zwanghaft «gerecht» und «gleich» behandeln wollen.

  • Jan kann sich besser entwickeln, wenn die Mutter ihm die Wahrheit zumutet und sagt: «Es ist nicht leicht für dich, dass Nathalie soviel Zeit und Kraft von mir beansprucht. Ich kann verstehen, dass du dich manchmal benachteiligt fühlst.»
  • Am Morgen vor dem Kindergarten kann sie das Thema immer mal wieder aufgreifen: «Nathalie bleibt zuhause, denn sie ist noch klein. Ich verstehe, dass du auch lieber manchmal bei mir bleiben würdest. Aber jetzt bist du schon fünf und mit fünf ist es wichtig, die Welt draußen kennenzulernen und mit vielen anderen Kindern zu spielen. Deshalb gehst du in den Kindergarten.»

Papa kann vom Himmel aus alles sehen und hören

Der Vater des siebenjährigen Maurice ist vor einem Jahr gestorben. Maurice hatte eine innige Bindung an den Vater und trauert auch heute noch. Wenn Maurice besonders wild ist, kein Ende mit der Toberei findet oder «Zirkus» bei den Hausaufgaben veranstaltet, dann sagt seine Mutter: «Papa kann vom Himmel aus alles sehen und hören. Der ist jetzt ganz unglücklich, dass du es mir wieder so schwer machst.» Maurice nimmt sich dann sofort zusammen.

Maurice' Mutter benutzt ihren verstorbenen Mann als Kontrollinstanz und Hilfsautorität, um ihr Kind zu disziplinieren. Doch sie verwirrt ihren Sohn. Sie schreibt Gefühle, die sie selbst hat, dem verstorbenen Mann zu und sie stattet ihn mit den Kompetenzen aus, die sie eigentlich selber benötigt, nämlich Autorität für den Jungen zu sein.
Die Vorstellung, von höheren Mächten überwacht und gesteuert zu werden ist ein häufiges Thema bei Psychosen. Diese Krankheiten sind oftmals ein Spiegel dessen, was für ein Bild diesen Menschen von den Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen des Lebens vermittelt wurde. Bei diesen seelisch Kranken ist die Trennschärfe, wo Fremdeinfluss sie beherrscht und wo Selbstbestimmung möglich ist, abhanden gekommen. Oder die kindliche Fähigkeit, Realität und Phantasie voneinander zu trennen, konnte sich gar nicht erst entwickeln.

  • Real hat der verstorbene Vater keine Macht über Maurice. Die Mutter kann dem Sohn vermitteln, dass religiöse Menschen daran glauben, dass die Seele nach dem Tode auf andere Weise weiterlebt. Und wenn sie den Vater als Instanz herbeiholen möchte, dann kann sie sagen: «Wenn dein Vater noch leben würde, dann würde er jetzt ein Machtwort sprechen.»
  • Besser wäre allerdings, sie würde lernen, selbst ein Machtwort zu sprechen und zur positiven Autorität für ihren Sohn werden. Sie sollte an sich arbeiten, um ihrem Jungen ihre Gefühle von Ärger entschlossen zu zeigen. Maurice, soll aufhören, zu toben, weil sie das will, und nicht weil der verstorbene Vater deshalb unglücklich wird.

Du hast mich zu oft geärgert, da sind mir die Haare ausgefallen

Der Vater des 5-jährigen René beantwortet die Frage «Papa, wieso hast du eine Glatze?» mit: «Du hast mich zu oft geärgert, da sind mir die Haare ausgefallen. Und wenn du so weitermachst, wird auch noch der Rest ausfallen.»

Vielleicht fühlt sich der Vater von Renés Frage ein wenig in seiner Eitelkeit gekränkt. So will und kann er in diesem Moment nicht ernsthaft antworten. Es gefällt ihm, dass René die Geschichte für bare Münze nimmt. Doch René kann in seinem Alter noch nicht auseinanderhalten, was Spaß und was Ernst ist. Ein Kind von acht oder zehn Jahren kann derlei Scherze verstehen. Ein fünfjähriger Junge noch nicht. Zusätzlich hat der Vater einen pädagogischen Zweck mit seinem kleinen Schwindel verbunden. Seine Botschaft lautete: Du bist schuld, wenn ich weitere Haare verliere.
Für einen Fünfjährigen ist nicht auszuschließen, dass Menschen vom Ärger die Haare ausfallen. René bekommt negativen Einfluss zugesprochen, den er real nicht hat. Dazu bekommt er gleichzeitig zwei sehr widersprüchliche Botschaften: der Vater spricht lustig über eine schlimme Sache. Das ist für René schwer zu enträtseln. Ihm wird erschwert, Ursache und Wirkung von Geschehnissen richtig einzuordnen. Sein Sinn für die Wirklichkeit wird falsch einprogrammiert.

  • Renés Sinn für die realen Zusammenhänge wäre nicht geschwächt worden, wenn sein Vater beispielsweise gesagt hätte: «Männer verlieren nun mal oft früh ihre Haare. Das geht vielen so. Manche finden eine Glatze auch schön, weil sie als männlich gilt.»
Wenn Spaß für Kinder nicht lustig ist

Kinder verstehen weniger Spaß oder Ironie, als die meisten Erwachsenen denken. Kinder nehmen die Worte der Erwachsenen ernst. Sie wollen etwas daraus für ihr Leben lernen, ihr Bild von der Welt präzisieren. Sie denken konkret und realistisch. Das von Erwachsenen Gesagte bildet für sie die Grundlage, herauszufinden, wie Normen und Regeln sind, wie die Realität beschaffen ist und ob sie dem nahen Erwachsenen vertrauen können. Bei diesem Prozess fühlen sie sich manchmal durch «Witze», die sie nicht verstehen, irritiert und verwirrt. Das Verstehen von Humor und Ironie, das Denken im übertragenen Sinne setzt erst mit zehn bis zwölf Jahren ein. Wenn Kinder häufig mit Fragestellungen konfrontiert werden, die sie nicht begreifen, fühlen sie sich inkompetent und unterlegen.
Weil sie merken, dass Erwachsene dies erwarten, haben viele Jungen und Mädchen gelernt, auf «Späße» sogar mit Lachen zu reagieren oder sie erkennen an den Begleitsignalen der Erwachsenen, dass sie das Gesagte nicht ernst nehmen sollen. Doch das heißt nicht, dass sie den Sinn des Spaßes tatsächlich verstanden haben.
Die folgende Erzählung eines heute Dreißigjährigen zeigt, wie verunsichert junge Kinder auf «Späße» der Erwachsenen reagieren:

«Als ich als ganz kleiner Junge bei meinen Großeltern war, habe ich bei einer Musiksendung im Fernsehen meinen Opa gefragt: ‹Warum hat der Heino immer eine dunkle Brille auf?› Mein Opa antwortete: ‹Weil der uns nicht sehen will.› Ich stellte mir vor, dass alle, die im Fernsehen von uns gesehen wurden umgekehrt in unsere Wohnzimmer schauen konnten. Mein Opa machte so etwas öfter. Anderen gegenüber erklärte er stolz: ‹Der Junge versteht meine Späße.› Ich hatte sogar gelernt, beifällig zu lachen, wenn er mir Rätsel aufgab. Ich habe mich bei meinem Großvater nicht mehr richtig wohl gefühlt.»

Heute gibt es Mangold

Die 7-jährige Susanna isst nicht gern Spinat, aber wenn es Mangold gibt, reagiert sie begeistert. Als es wieder einmal Spinat gibt, behauptet der Vater: «Susanna, heute gibt es Mangold, den magst du doch.» Verschmitzt lächelt er Susannas Mutter an. Und während Susanna ihren Spinat isst, in der Annahme es wäre Mangold, freuen sich beide Eltern, dass sie ihre Tochter so erfolgreich überlistet haben.

Ganz schnell sind wir bereit, zu einer kleinen Lüge zu greifen, wenn wir nur unser Ziel erreichen wollen. Selbst, wenn das Kind nicht gemerkt hat, dass die Erwachsenen es gerade angeschwindelt haben, registriert es unbewusst, wenn Eltern ihm etwas vormachen. Kinder haben einen Sinn für das Unausgesprochene und registrieren die Stimmungen der Erwachsenen.
Wir alle haben die eine oder andere Erinnerung an früher, wo wir bemerkt haben, dass unsere Eltern nicht sorgfältig mit der Wirklichkeit umgegangen sind. Wenn Susanna früher oder später die kleine Lüge aufdeckt, dann wird es ihr vielleicht peinlich sein, dass sie den Schwindel hat mit sich machen lassen. Vielleicht schwächt es ihr Selbstvertrauen, dass sie so dumm war und sich hat täuschen lassen. Viele Kinder suchen zunächst bei sich selbst die Schuld. Vielleicht ärgert sich Susanna über ihre Eltern. Vielleicht lacht sie auch darüber und findet es in Ordnung, dass die Eltern geschwindelt haben. Mit Sicherheit aber hat sie gelernt, dass es legitim ist, andere anzuschwindeln, um einen bestimmten Zweck zu erreichen.

Die Erwachsenen – Modelle für die Kinder im Umgang mit der Wahrheit

Die 5-jährige Juliane ist eine Woche bei Verwandten. Die Mutter hat versprochen, Juliane jeden Abend anzurufen. Am ersten Abend weint Juliane sehr am Telefon und fordert, die Mutter solle sie am anderen Tag wieder abholen. Später erfährt die Mutter von ihrer Schwester, Juliane habe gleich nach dem Telefongespräch wieder gespielt. Daraufhin glaubt Julianes Mutter, das Weinen ihrer Tochter sei nicht «echt» gewesen. Sie beschließt nun, Juliane lieber nicht mehr anzurufen. Als sie Juliane nach der Woche abholt, mischt sich Julianes Freude mit Tränen und Ärger. «Du hast mich gar nicht angerufen» schreit sie. Die Mutter sagt: «Das lag an dir, ich wollte nicht, dass du wieder so viel Theater machst.»

Julianes Mutter sucht Beratung, weil Juliane ihr öfter ganz offen ins Gesicht lügt. Es wird deutlich: Julianes Mutter ist selbst mit Widersprüchen und Halbwahrheiten bei unzuverlässigen Eltern aufgewachsen. So kann sie für ihr Kind kein gutes Modell sein, Normen und Regeln zu verinnerlichen. Sie hält sich nicht an die zwischenmenschliche Regel: Ein Versprechen musst du halten. Doch sie gibt dem Kind die «Schuld» dafür. Die Wirklichkeit wird von der Mutter verdreht. Kein Wunder also, dass Juliane ihrerseits öfter lügt. Julianes Mutter findet ihr Handeln logisch. Sie misstraut ihrem Kind. Dabei hat Juliane sich in diesem Fall angemessen verhalten. Wenn die Person, auf die der Wunsch und Schmerz gerichtet sind, nicht mehr verfügbar ist, hören viele Kinder auf zu weinen und wenden sich wieder anderen Interessen zu.

  • In der Beratung lernt Julianes Mutter Schritt für Schritt neu, wesentliche Zusammenhänge von Ursache und Wirkung besser einzuschätzen. Sie kann nachträglich zu Juliane sagen: «Es tut mir Leid. Ich habe mich damals an mein Versprechen nicht gehalten, dich anzurufen, weil ich Angst hatte, du könntest dich wieder aufregen. Das war nicht richtig von mir. Ich kann verstehen, dass du auf mich sauer warst.»
Als soziales Wesen ist das Kind von den ersten Lebenstagen an darauf angewiesen, die Kommunikationsmuster der Erwachsenen zu kopieren, sowie die Werte und Haltungen der Erwachsenen durch Agieren und Reagieren zu erforschen und zu verinnerlichen. Ob ein Kind verbindlich und aufrichtig ist und soziale Normen übernimmt, hängt davon ab, was die Eltern dem Kind früh vorleben. Eltern, die selbst keine klare Richtschnur in sich tragen, geben dies weiter. Das Kind kopiert das Verhalten der Eltern. Anna Freud beschreibt dies so: «Das Kind muss das Liebessobjekt wenigstens teilweise in sich aufnehmen, es muss sich selber so umwandeln, dass es dieser Mutter oder diesem Vater ähnlich wird.» (Anna Freud, 1973, S. 112).
Das Kind übernimmt das Wertesystem der Erwachsenen mitsamt den Anteilen, die dem Erwachsenen selbst manchmal nicht zugänglich sind. «Unter Identifikation verstehen wir die bewusste oder unbewusste Übernahme von Werten, Normen, Haltungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen von Personen, zu denen eine positive Beziehung besteht, bei denen es sich also um geliebte oder um bewunderte Personen handelt. Lernen durch Identifikation vollzieht sich im Kleinkindalter vorwiegend in der Familie, wobei unbeabsichtigte Vorbildwirkung der Eltern wichtiger ist als alle intendierten Erziehungsmaßnahmen.» (Schenk-Danzinger, 1994, S. 117).
  • Schwindeleien sind oft kurzfristig von Erfolg gekrönt, doch langfristig geben wir Kindern falsche Arbeitsmodelle auf ihren Lebensweg für ihre Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und das menschliche Miteinander. Erwachsene, die auch in kleinen Dingen bei der Wahrheit bleiben, festigen das Vertrauensverhältnis zwischen sich und ihrem Kind und ermöglichen ihm, sich zu kritischen, selbstbewussten und aufrichtigen Erwachsenen zu entwickeln.


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