Irmela Wiemann. Ratgeber Pflegekinder, Leseprobe


Vorwort

Seit dem Erscheinen meines Buches »Pflege- und Adoptivkinder«  habe ich auf Seminaren und Pflegeelterntagen zahlreiche Pflege- und Adoptiveltern kennengelernt. Viele von ihnen haben mir von ihren Kindern erzählt: Geschichten von Kindern, die seit Geburt in der Pflegefamilie lebten und solche, die erst spät vermittelt worden waren: jede für sich verschieden, beeindruckend, manche beunruhigend, bedrückend, beglückend. Es gab Kinder mit Besuchskontakten, nach denen Pflegeeltern und Kind gelitten haben. Andere Kinder setzten sich der leiblichen Mutter beim Besuch auf den Schoß, ohne danach schlecht zu schlafen. Es ging allen Beteiligten – Pflegeeltern, leiblicher Mutter und Kind – gut dabei. Auch mit leiblichen Eltern, die nicht mit ihren Kindern leben können, habe ich immer intensiver und häufiger in Beratung und in Gruppen gearbeitet. Herkunftseltern lernten hier, ihre schwierige Rolle zu akzeptieren, leibliche Eltern, möglicherweise Besuchseltern zu bleiben, aber die Jeden-Tag-Verantwortung für ihr Kind auf andere Menschen übertragen zu haben.
Mir sind viele Pflegeverhältnisse bekannt geworden, die bis ins Erwachsenenalter der Kinder innig und befriedigend blieben. Manchmal aber gingen Pflegeeltern oder Jugendliche im Alter von zwölf, vierzehn oder sechzehn vorzeitig auseinander. Mir ist ein Mädchen vorgestellt worden, das seit seiner Geburt in einer Pflegefamilie gelebt hat und mit neun seine Koffer packte, um zu seiner leiblichen Mutter zu ziehen, die es kaum kannte. Ich habe miterlebt, wie Pflegeeltern in schweren Lebenskrisen – Scheidung oder schwerer Krankheit – sich von Heute auf Morgen vom Pflegekind trennten. Die leiblichen Kinder durften bleiben. Dies zeigt die Ausnahmesituation, in der Pflegekinder leben. Jugendliche und junge Erwachsene, die selbst früher Pflegekinder waren, haben aus ihrem Leben berichtet. Manche hatten und haben feste zufriedene Bindungen an ihre Pflegeeltern. Andere hatten sich ein Leben lang als Außenseiterinnen und Außenseiter in ihren Pflegefamilien gefühlt. Manche hatten Kontakte zu ihren leiblichen Eltern und sich als Jugendliche ganz von diesen losgemacht. Anders eine junge Frau, die mit zwanzig Jahren ihre Mutter wiedertraf. Sie warf der Mutter bitterlich vor: »Warum bist du nicht mehr gekommen?« Die Mutter hatte auf Raten der Pflegekinderbetreuerin ihre Kontakte eingestellt, als die Tochter zehn war. Damals wurde ihr gesagt, das Kind würde durch die Besuche durcheinandergeraten und sie gab nach.
Auf zahlreichen Arbeitstagungen, durch Supervision und Institutionsberatung habe ich die Arbeitsweise weiterer Jugendämter und Pflegekinderdienste kennengelernt. Viele bieten den Pflegeeltern umfassende Vorbereitung, Schulung und Begleitung in Pflegeelterngruppen an. Andere sind personell und mit Haushaltsmitteln so knapp ausgestattet, daß sie gerade ein Sommerfest oder eine Nikolausfeier davon organisieren können.
Einige Pflegeeltern sagten: »Man hat uns nie gesagt, wie schwer es ist.« Andere erzählten, wie sie mit den Problemen ihrer Kinder reiften, wuchsen. Die einen ließen sich von kleinen Kindern verletzen und kränken, die anderen reagierten phantastisch gelassen, liebevoll und konsequent auf harte Herausforderungen. Die einen söhnten sich mit den Herkunftseltern aus, rauften sich mit ihnen zurecht, die anderen haßten sie. Wieder andere lieferten sich den Herkunftseltern aus, gaben ihnen zu viel Macht und trauten sich nicht, sich an ihre Pflegekinder zu binden. Doch Kinder brauchen Zugehörigkeit und Geborgenheit.
Auch die Verfahrensweise der politisch Verantwortlichen erlebte ich hautnah. Anläßlich des Pflegeelternnachmittags einmal im Jahr danken manche den Pflegeeltern für deren Leistung und lassen sich für die örtliche Presse fotografieren. Pflegeeltern, die ihrer Sozialdezernentin den Stellenabbau im Pflegekinderdienst vorhielten, bekamen die Antwort: »Wozu benötigen sie Hilfe. Sind sie als Eltern etwa nicht kompetent genug?«
Die Antwort beinhaltet, daß Pflegeelternsein identisch sei mit Elternsein und leugnet, daß Pflegefamilien einen Auftrag der Jugendhilfe erfüllen. Im Kinder- und Jugendhilferecht ist ihr Anspruch auf Beratung und Unterstützung festgeschrieben. Doch viele Pflegeeltern glauben den politisch Verantwortlichen. Sie fühlen sich alleinzuständig und alleinverantwortlich, vielleicht auch noch geehrt und wagen nicht, ihnen zustehende Hilfe und Solidarität einzufordern.
Ich erhielt Bestärkung bei der Klärung der spannenden Frage, unter welchen Voraussetzungen Pflegekinder zufrieden aufwachsen können. Immer wieder stieß ich auf ähnliche Gesetzmäßigkeiten und Regeln. Diese werden in diesem Ratgeber herausgearbeitet.
Pflegekinder haben beide Elternteile, häufig auch Großeltern und andere Bezugspersonen in ihrem Leben verloren und sie mußten eine Eltern-Kind-Beziehung mit neuen, ihnen zunächst fremden Menschen eingehen. Diese Realität und der damit verbundene Schmerz prägt diese Kinder lebenslang. Beide Familien des Pflegekindes leben in einer Ausnahmesituation. Die abgebenden Eltern müssen ihr Kind früher loslassen, als dies den natürlichen Aufwachsphasen entspricht. Die Pflegefamilie übernimmt Elternrolle für ein Kind, das nicht ihr »eigenes« ist. Beide Familien müssen ganz Ungewöhnliches leisten.
Auch abgebende Eltern haben sich an mich gewandt. Mit den einen habe ich daran gearbeitet, daß sie lernten, ihr Kind loszulassen. Sie billigten ihm zu, in der Pflegefamilie Zuhause zu sein. Andere habe ich unterstützt, wenn ihr Kind wieder zu ihnen »zurückgeführt« wurde. Sie wollten nach einer Phase der getrennten Wege das Zusammenleben wieder lernen.
Einfache oder schmerzfreie Lösungen gibt es nicht, sosehr sich alle, die mit Pflegekindern arbeiten oder leben danach sehnen. Wir werden den Kindern am ehesten gerecht, wenn wir anerkennen, daß Pflegekinder Kinder zweier Familien sind. Für jedes Kind müssen gemäß den Jahren die es in jeder der beiden Familien gelebt hat, seiner Lebensgeschichte, seiner Position, seinen Bindungen in beiden Familien angemessene Wege gefunden werden, seine Zukunft zu gestalten. Doch davon ist die Praxis noch weit entfernt.
Die Pflegefamilie, ihr pädagogisches Verhalten, ihre Prägungen aus der eigenen Kindheit, ihre Familien- und Paarsituation und ihre Beweggründe, ein Kind anderer Menschen aufzunehmen, ist nur eine Variable im großen Netz. Hinzu kommen politische Rahmenbedingungen, Arbeitsweise der Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, Sorgfalt bei der Planung der Lebensperspektive von Kindern, Zusammen- oder Gegeneinanderwirken von Herkunfts- und Pflegefamilie.
In meinem ersten Buch »Pflege- und Adoptivkinder«  habe ich das Gemeinsame der beiden Hilfeformen herausgearbeitet: Pflege- und Adoptivkinder leben mit Menschen zusammen, die nicht ihre leiblichen Eltern sind. Pflege- und Adoptivkinder haben ihre Eltern im Lauf ihres Lebens ganz oder teilweise verloren und fühlen sich neuen Eltern mehr oder weniger stark zugehörig.
Adoptivkinder sind gesetzlich ganz Kinder ihrer neuen Familien. Die Verantwortung für das Kind ruht nach Abschluß der Adoption allein auf den Schultern der Adoptiveltern. Die Verantwortung für das Pflegekind ist auf verschiedene Menschen und Institutionen verteilt: Pflegeeltern, Jugendamt, leibliche Eltern oder Vormund. Deshalb habe ich mich diesmal für zwei Bände entschieden: einen »Ratgeber Pflegekinder«  und einen »Ratgeber Adoptivkinder«.

Ich danke allen Pflegeeltern, Kindern und Jugendlichen, allen abgebenden Eltern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Jugendämtern für ihre Zusammenarbeit. Aus ihrer aller Erfahrungen konnte ich lernen. Deshalb konnte ich die beiden Ratgeber schreiben.
In allen angeführten Familienbeispielen wurden Namen und persönliche Daten verändert, so daß die Familien nicht wiedererkannt werden können. Ähnlichkeiten mit Ihnen bekannten Familien sind möglich, da es sich um typische Beispiele handelt, die es in vielen Herkunftsfamilien-Pflegefamilien-Systemen gibt.
Mitgeholfen, kritisch gelesen, inhaltlich und fachlich unterstützt haben mich: Brigitte Kaetzge, Volker Jablonski, Brigitte Löw, Gerda Stößinger und Otto Salmen. Euch gilt mein besonderer Dank.

Irmela Wiemann


1. Wenn Pflegeverhältnisse gelingen sollen

Kathrin ist vier Jahre alt und lebt seit einem Jahr in einer Pflegefamilie. Die Pflegeeltern haben ein leibliches Kind: Anja, fünf Jahre. Eines Tages sagte Anja zu Kathrin: »Ich will so werden wie die Mutti und wenn ich groß bin, bekomme ich Kinder.« Kathrin, Pflegekind von »Mutti« antwortet: »Ich will nicht so werden wie die Mutti. Ich werde wie meine Mama. Dann bekomme ich ein Kind und bringe es zur Mutti in Pflege.«

Kathrin versucht Ordnung in ihr Leben zu bringen, indem sie das Ungewöhnliche und Schmerzliche für sich zur Normalität erklärt. Sie hat einen Weg gefunden, beide Mütter zu akzeptieren. Kathrin billigt den Schritt ihrer leiblichen »Mama«, sie zu einer anderen Mutti in Pflege gebracht zu haben und stellt ihn als positiv hin. Dies gelingt ihr, indem sie in Phantasie selbst in die Rolle der leiblichen Mutter schlüpft. Sie will ihr Kind ebenfalls fortgeben. Mit ihrem Vorhaben söhnt sie sich mit ihrer »Mama« und deren ungewöhnlichem Handeln aus. Zugleich gibt sie auch der Pflegemutter Wertschätzung: dieser will sie »ihr Kind« einmal anvertrauen. Kathrin versucht auf diesem Weg, sich mit ihrem außergewöhnlichen Schicksal, als Pflegekind zu leben, zu arrangieren.
Pflegekinder können nicht ohne weiteres Kind einer neuen Familie werden. Dieser Prozeß kostet sie viel Kraft und hinterläßt Narben in ihrer Seele, jenachdem was sie erlebt haben. Meist fühlt sich das Pflegekind durch die Weggabe von seinen Eltern entwertet. Pflegekinder brauchen Bezugspersonen mit viel Einfühlungsvermögen. Durch ihre seelischen Verletzungen und ihre Selbstwertprobleme haben sie eine Persönlichkeitsstruktur, die Pflegefamilien oft in Atem hält.
Kinder, die älter in Familien kamen, können oft nicht so viel zurückgeben, wie Kinder in langjährig gewachsenen Beziehungen. Das Angebot an Liebe kann ein Pflegekind oft dazu bringen, sich besonders zu verweigern. Dies kann geschehen, indem es sich zu allen Menschen – auch fremden – gleich nah und begeistert, sogar distanzlos verhält oder besonders unverbindlich und abweisend. Es ist nicht in der Lage, die Normen so zu verinnerlichen, wie Kinder, die von klein an in nur einer Familie gelebt haben.
Menschen, die ein Pflegekind aufnehmen wollen, müssen wissen: Es gibt ganz unterschiedliche Formen der Pflege.
1. Es gibt Kinder, die nur einen Teil ihrer Lebenszeit in der Pflegefamilie verbringen sollen. Diese Kinder bleiben rechtlich, sozial und psychisch ihren leiblichen Eltern zugehörig. Sie bekommen mit der Pflegefamilie weitere nahestehende Bezugspersonen. Dies ist so bei folgenden Pflegeformen:

  • Tagespflege: Das Kind wird am Morgen von seinen Eltern gebracht und kehrt am Abend zurück.
  • Wochenpflege: Das Kind wird am Sonntag Abend oder Montag früh gebracht und am Freitag Nachmittag wieder abgeholt.
  • Kurzzeitpflege: Das Kind braucht Pflegeeltern für einige Wochen, die vorher festgelegt sind.
  • Langzeitpflege: Das Kind kommt für einen längeren Zeitraum – oft auch für Jahre – in die Pflegefamilie und wird nach einem festgelegten Zeitraum in seine leibliche Familie zurückkehren.

Tages- und Wochenpflege sind Teilzeitpflegestellen. Kurzzeit- und Langzeitpflege sind Vollzeitpflegen, d.h. das Kind ist tagsüber, nachts und am Wochenende in der Pflegefamilie.
2. Es gibt viele Kinder, bei denen schon früh klar ist: Das Kind soll Teil seiner Pflegefamilie sein. Es wird voraussichtlich nie wieder bei seinen Eltern leben können. Es handelt sich um Vollzeitpflege auf Dauer. Kinder, die jung ihre Herkunftsfamilie verlassen mußten, fühlen sich seelisch und sozial als Kind der Pflegefamilie. Kinder, die schon Jahre in ihrer leiblichen Familie gelebt haben, vergessen ihre Eltern nicht. Pflegeelternsein heißt dann, dem Kind beizustehen, mit seiner Wirklichkeit leben zu lernen, sich zwei Familien zugehörig zu fühlen. Fast alle Dauerpflegekinder sind seelisch verletzte Kinder. Sie haben Trennungen, Verluste hinter sich. Sie sind eine eigene Persönlichkeit geworden mit schönen aber auch schwer erträglichen Verhaltensweisen. Pflegeelternsein heißt auch: Zuständigsein für Schmerz und Trauer des Kindes.
3. Oft kann nicht vorhergesagt werden, ob das Kind befristet oder auf Dauer in der Pflegefamilie bleiben wird. Hierzu benötigen wir Pflegeeltern, die sich auf eine ungewisse Perspektive einlassen können. Sie müssen für einen begrenzten Zeitraum bereit sein für beides: für die Rückführung des Kindes zu seinen Eltern oder dafür, daß das Kind auf Dauer bei ihnen bleiben wird. Hat beispielsweise eine Mutter vor, weil ihr das Kind vom Jugendamt fortgenommen wurde, einen Alkoholentzug zu machen, so ist nicht vorherzusehen, ob sie es schafft oder wieder rückfällig wird. Hierfür werden Pflegeeltern benötigt, die eine solch ungewisse Entwicklung für eine bestimmte Zeit dem Kind zuliebe mittragen. Im § 37 SGB VIII heißt es: »Ist eine nachhaltige Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb dieses Zeitraums nicht erreichbar, so soll mit den beteiligten Personen eine andere, dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen förderliche und auf Dauer angelegte Lebensperspektive erarbeitet werden.«
Schon früh sollten sich Pflegeelternbewerber mit ihren zuständigen Jugendamtsmitarbeiterinnen oder Jugendamtsmitarbeitern klar werden, welche Form der Pflege sie anbieten wollen: Wollen sie ein Kind für einen befristeten Zeitraum aufnehmen, bei dem Rückführung in seine Familie vorgesehen ist oder wollen sie ein »sicheres« Kind auf Dauer, ein Beinahe-Adoptivkind? Oder sind sie bereit, sich für beide Möglichkeiten eine gewisse Zeit offen zu halten?
Selbst wenn am Beginn der Pflegezeit das Kind in eine der beiden ersten Kategorien fällt, so kann in späteren Jahren überraschend doch noch die Perspektive wechseln. Dies ist für alle Beteiligten eine besonders schwere Situation.


Die Planung von Pflegeverhältnissen

Eine der schwierigsten Aufgaben in der Sozialarbeit ist es, einzuschätzen: können Eltern wieder für ihre Kinder sorgen, können Kinder wieder zurück zu ihren Eltern oder ist eine Herausnahme aus seiner Familie auf Dauer für das Kind trotz Schmerz und Verlust die bessere Lebensperspektive? Der Anspruch auf ein geborgenes Leben und das Interesse eines jeden Kindes, mit seinen Eltern aufzuwachsen, müssen sorgfältig abgewogen werden. Hier die Weichen für ein ganzes Leben richtig zu stellen, ist schwer. Das Lebensalter der Kinder sowie ihr Anspruch durch dauerhafte Bindung an feste Bezugspersonen zu einer reifen Persönlichkeit zu werden, muß in die Perspektivenplanung miteingehen. Bei Säuglingen und Kleinkindern scheidet die offene Perspektive aus, es sei denn die leibliche Mutter kann das Kind mehrmals wöchentlich in der Pflegefamilie besuchen.
Schützenswert ist für jedes Kind die Bindung, die es in den ersten Jahren aufgebaut hat, zu Pflegeeltern ebenso wie zu der Herkunftsfamilie. Denn ein totaler Beziehungsverlust in den frühen Jahren prägt jeden Menschen für immer. Deshalb muß mit den betroffenen Eltern intensiv und schon früh im Leben des Kindes um eine klare Perspektive gerungen werden: Wo werden künftig seine primären Bindungen liegen, bei den leiblichen Eltern oder bei den Pflegeeltern?
Viele Pflegekinderdienste haben noch nicht erkannt, welche zentrale Bedeutung eine geklärte Perspektive für ein entspanntes Zusammenleben in der Pflegefamilie vor allem für das Kind hat. Wie ein Puzzle, in dem viele Teile zusammenpassen müssen, wird ein Pflegekind nur glücklich, wenn das Zusammenspiel mehrerer komplizierter Faktoren gewährleistet ist: Lassen Herkunftseltern ganz los, so brauchen wir Dauerpflegefamilien, die das Kind ganz annehmen. Ist noch ungewiß, ob der Prozeß in Loslassen oder Zurückholen endet, so benötigen wir Pflegeeltern, die diese Ungewißheit über einen festzulegenden Zeitraum mittragen. Wenn der Grad der »Entbindung« bei den leiblichen Eltern und der Wunsch nach Integration des Kindes bei den Pflegeeltern nicht zusammenpassen, gibt es immer wieder Interessenkonflikte. Unter diesen leiden die Kinder am meisten. Gibt es unterschiedliche Bedürfnisse bezüglich Zukunftsperspektive des Kindes oder Häufigkeit und Rahmen der Besuche – so ist dies ein ständiges Konfliktpotential für die beiden Familien und das Kind. Die Persönlichkeit und die Probleme des Kindes, der Problemkreis seiner Eltern, die Aufträge der Eltern an das Kind, seine Zukunftsperspektive, Besuchsregelungen und die Dynamik der Pflegefamilie, ihre Beweggründe, ihre Erwartungen müssen in Einklang gebracht werden. Deshalb paßt nicht jedes Kind in jede Pflegefamilie.
Dies setzt viel Zeit und viel Gründlichkeit bei der Planung der Pflegeverhältnisse voraus. Bevor nicht deutlich ist, wie die Zukunft des Kindes aussehen kann, kann nicht die passende Familie für das Pflegekind gefunden werden. Spätere Abbrüche von Pflegeverhältnissen werden immer schon in der Planungsphase mitverursacht. Deshalb wird heute bei vielen Jugendämtern mehr Sorgfalt auf die Weichenstellung zu Beginn der Pflegeverhältnisse gelegt, als in früheren Jahren.
Die Kinder kommen für einige Wochen, manchmal auch Monate, in eine Bereitschaftspflegefamilie. Diese sind Vertragspartner des Jugendamtes und sie versorgen das Kind während der akuten Krisen in der Herkunftsfamilie, bis die Perspektive geklärt ist. Von dort wechseln die Kinder dann entweder in eine Dauerpflegefamilie oder sie kehren zu ihren Eltern oder Elternteilen zurück.


Besondere Lebensform Pflegefamilie

Ein Dauerpflegekind hat, wenn jung vermittelt, Bindung, Beziehung zu seinen Pflegeeltern, ähnlich wie Adoptivkinder. Ein Adoptivkind ist laut Gesetz nicht mehr mit seinen leiblichen Eltern verwandt. Das Pflegekind bleibt jedoch gesetzlich und – wenn es älter in die Pflegefamilie kommt – auch seelisch sozial, Kind seiner Herkunftseltern. Es trägt deren Nachnamen. Diese müssen weiterhin für den Lebensunterhalt aufkommen. Herkunftseltern erleben sich meist als »die richtigen« Eltern, obwohl das Kind nicht mehr bei ihnen wohnt. Viele behalten das Sorgerecht. Doch das Kind lebt, wie ein »eigenes Kind« in der Pflegefamilie.
Pflegeeltern müssen die Wirklichkeit ertragen lernen, daß die leiblichen Eltern »ihrer Kinder« das Leben nicht »auf die Reihe« bekamen. Sonst hätten die Kinder dort nicht fortgemußt. Nur wenn Pflegeeltern sich innerlich mit der schlimmen Lage der Kinder in ihrer Herkunftsfamilie auseinandersetzen, können sich die Kinder zufrieden fühlen. Auch Kontakte zur Herkunftsfamilie gehören häufig zum Zusammenleben mit dem Pflegekind dazu. Die Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie ist auch im Kinder- und Jugendhilferecht § 37 verankert. Es »soll darauf hingewirkt werden, daß die Pflegeperson oder die in der Einrichtung für die Erziehung des Kindes verantwortlichen Personen und die Eltern zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zusammenarbeiten«.
Die Pflegeeltern haben in der Regel keine Vormundschaft, kein Sorgerecht. Dieses liegt entweder bei den leiblichen Eltern oder das Kind hat einen gesetzlichen Vormund beim Jugendamt oder einem freien Träger, wie z. B. Caritasverband oder Diakonisches Werk. Eine Erleichterung für Pflegefamilien ist der § 38 im Kinder- und Jugendhilferecht. Er ermöglicht, daß Pflegeeltern die Personensorgeberechtigten in der Ausübung der elterlichen Sorge vertreten. Pflegeeltern können damit z. B. ärztliche Eingriffe selbst entscheiden oder Zeugnisse selbst unterschreiben.
Die Pflegefamilie wird beauftragt und begleitet vom Jugendamt. Eltern, die ein Dauerpflegekind aufnehmen, sind anders als die Adoptivfamilie also keine Privatfamilie mehr, sondern – zumindest in Teilbereichen – eine Institution des Jugendamtes. Mit diesem haben sie einen Vertrag.
Schon in früheren Jahrhunderten wurde die Unterbringung in Pflegefamilien als Alternative angesehen für Kinder, die in Waisen- und Findelhäusern aufwachsen mußten. Doch Pflege- und Kostkinder wurden hauptsächlich aus wirtschaftlichen Interessen aufgenommen. Die Kinder wurden schwer ausgebeutet und mußten hart arbeiten.
Nach der Kampagne »Holt die Kinder aus den Heimen« zu Beginn der siebziger Jahre etablierte sich das Pflegekinderwesen – ähnlich wie schon einmal im Waisenhausstreit im 18. Jahrhundert – als pädagogisch wertvollere und zugleich billigere Alternative gegenüber der Heimerziehung. Dies führte zum Ausbau der Spezialdienste für Pflegekinder in vielen Jugendämtern. Heute gibt es wieder eine Gegenentwicklung: Einige Jugendämter lösen die Spezialdienste für Pflegekinder auf. Die Betreuung der Pflegefamilien obliegt dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD). Da der ASD mit vielfältigen anderen, oft belastenden Aufgaben betraut ist, kommt die Begleitung der Pflegefamilien zu kurz.
Heute ist den fachlich Verantwortlichen klar: Eine Pflegefamilie ist kein Heimplatz. Ein Kind, das früh in eine Familie vermittelt wird, geht Bindungen ein, die denen in leiblichen Familien gleichen. Diese frühen Bindungen müssen geschützt werden. Und mit der Maßnahme Familienunterbringung als Hilfeform ist fachlich-inhaltlich gewollt, daß Kinder sich binden dürfen und sollen. Das Kinder- und Jugendhilferecht bietet die Grundlage im § 33. Die Vollzeitpflege kann entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes auf Dauer angelegt sein.
Daß eine Pflegefamilie eine besondere Lebensform ist, nämlich eine »Hilfe zur Erziehung« durch das Jugendamt, wird auch in der Bezahlung deutlich. Die Pflegeeltern haben – anders als Adoptiveltern – materiell nicht für das Kind aufzukommen. Sie bekommen Unterhalt für das Kind. Auch darin wird erlebbar, daß das Pflegekind nicht ihr eigenes Kind ist: Für das eigene Kind müssen Eltern selbst aufkommen.
Dazu bekommen sie einen Erziehungsbeitrag bei Vollzeitpflege – in Hessen zur Zeit (ab 1.7.2009) monatlich € 220,–. Mit diesem Geld soll die »pädagogische Leistung« anerkannt werden. Definiert sich die Pflegefamilie als Privatfamilie, die für ein Kind »richtige« Eltern sein will, dann bekommt sie eigentlich viel Geld, wesentlich mehr, als leibliche Eltern in der Regel für ein Kind haben. Verstehen sie sich hingegen als eine Maßnahme der Jugendhilfe, die Pflegeeltern ein hohes Maß an Kompetenz abverlangt und die Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie des Kindes, dann sind die € 220,.– eine eher geringe Anerkennung für einen schweren Full-time-Job.
Befürworterinnen und Befürworter von professionellen Pflegefamilien haben diesen Konflikt erkannt. Erziehungsstellen, Familienwohngruppen, Kinderdorfeltern oder SOS-Kinderdorfmütter: Sie alle bieten ihren familiären Rahmen für einen beruflichen und öffentlichen Auftrag. Ihre bessere Bezahlung soll Klarheit über Rolle und Selbstbild der Pflegefamilie schaffen. Sie sind zentrale Bezugspersonen für das Kind, sollen dem Kind die leiblichen Eltern bewahren helfen und sie bei ihrer Ablösung oder Rückführung begleiten. Sie übernehmen Elternfunktion, sind sich aber im Klaren, daß sie dafür bezahlt werden und daß sie in erster Linie innige pädagogische Begleitpersonen für die Kinder sind. Nicht viel anderes müssen auch die meisten »normalen Pflegeeltern« leisten, wenn sie für die Kinder das Richtige tun wollen. Doch sie bekommen weder das entsprechende Geld noch die Rahmenbedingungen: Institutionelle Unterstützung, Fortbildung, Praxisberatung.
So sind im System Dauerpflege allein schon von seiner äußeren Struktur und dem weiten Spektrum an Möglichkeiten, was denn eine Pflegefamilie ist, zahlreiche Konflikte angelegt. Daraus resultieren viele innere Nöte und Sorgen der Kinder und ihrer beiden Familien.



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