Irmela Wiemann. Pflege- und Adoptivkinder, Leseprobe


»Als Adoptivkind bin ich eine Schwindlerin. Ich bin eine von jenen Trickfiguren, die ständig ihre Größe und Gestalt ändern. Manchmal bin ich ein hilfloses, wankelmütiges Geschöpf, manchmal ein allmächtiges Wesen vom anderen Stern. Ich bin nicht wirklich.«
(Betty Jean Lifton in »Adoption«)

Einführung

Dieses Buch basiert auf meiner langjährigen therapeutischen und beratenden Arbeit mit Pflege-, Adoptiv- und Herkunftseltern sowie Pflegekinder- und Adoptionsvermittlern und -vermittlerinnen. Ihnen allen danke ich für ihr Vertrauen. Ihre Mitarbeit in Fortbildungsveranstaltungen hat mir ermöglicht, dieses Buch zu schreiben.
Das Buch richtet sich an Pflege- und Adoptiveltern, die Herkunftsfamilien, aber auch an alle an der Vermittlung Beteiligten, Jugendämter, Therapeuten und Therapeutinnen, Berater und Beraterinnen, Gutachter und Gutachterinnen und Richter und Richterinnen. Über rechtliche Aspekte der Adoption und die Suche erwachsener Adptierter schreibt der Adoptionsvermittler Volker Jablonski S 187 ff.
Aufwachsen von Kindern verläuft nie konfliktfrei. Konflikte gehören zur menschlichen Entwicklung, Menschen reifen an ihnen. In Pflege- und Adoptivfamilien ist zusätzliches Konfliktpotential angelegt, da Ursprungsfamilie, aufnehmende Familie sowie gesellschaftliche Normen und Denkmuster, wie eine gute Familie zu sein hat, zusammenwirken.
In der leiblichen Familie aufzuwachsen, ist in unserer Kultur selbstverständlich. Kinder sind Teil ihrer Verwandtschaft, letztes Glied von Generationen. Das Kind sieht jemandem in der Familie ähnlich, »es kommt auf den Vater, die Tante, die Großmutter heraus.« Es bekommt auch heute oft noch einen Vornamen von Vorfahren. Durch seine Familie weiß es, wer es ist, bekommt es seine Besonderheit, seine Identität. Soziale Elternschaft hat leider einen eher niedrigen, Blutsverwandtschaft einen hohen Stellenwert in unserer Kultur und das wesentliche Merkmal der Kleinfamilie ist, dass biologische und soziale Elternschaft in ihr verknüpft sind. Kaum vorstellbar, was es auf dem Hintergrund dieser kulturellen Norm für ein Kind bedeutet, als Pflege- oder Adoptivkind aufzuwachsen, »fremdplaziert« worden zu sein, fortgegeben von seiner Familie: ausgetauscht.
Ich habe lange überlegt, ob es sinnvoll ist, ein Buch über Pflege- und Adoptivkinder zugleich zu schreiben, denn ihre rechtliche Situation ist grundverschieden. Adoptiveltern haben alle Rechte am Kind, das Kind kennt seine Herkunftseltern in der Regel nicht. Die Adoptiveltern können sich nach dem Adoptionsverfahren in ihr Privatleben zurückziehen. Pflegeeltern dagegen müssen ihre Familie öffnen, sie sind eine Kleinsteinrichtung des Jugendamtes, bekommen von diesem Unterhaltszahlungen. Manche sind tagtäglich mit der Herkunftsfamilie des Kindes konfrontiert.
Dennoch habe ich mich für ein Buch entschieden. Beide, Pflege- und Adoptivfamilien, haben es mit »nicht leiblichen« Kindern zu tun, Kindern, die in einer anderen Familie Teil einer Generationenkette sind. Und es gibt fließende Übergänge, z.B. offene Adoptionen, in denen abgebende und annehmende Eltern einnander kennen und geschlossene Pflegefamilien, die keinen Kontakt zur Herkunftsfamilie des Kindes haben. Auch entschließen sich Adoptivbewerber und -bewerberinnen oft, doch Pflegeeltern zu werden, da es zuwenig Adoptivkinder gibt.
Pflege- und Adoptivkinder kommen so gut wie nie aus einer »heilen Welt«. Sonst hätten sie dort nicht fortgemußt. Pflege- und Adoptiveltern haben über die Herkunft der Kinder oft auch mit vielfältigen Beziehungsstörungen, Gewalt, Mißbrauch, Armut, Kriminalität, Drogenabhängigkeit, Psychiatrie, Alkoholismus u. v. a. m. zu tun. Sie werden dem Kind nur gerecht, wenn sie sich von diesen »schlechten Verhältnissen« nicht einfach distanzieren. Denn das Kind fühlt sich als Teil seiner Herkunft. Nur wenn die beiden Lebenswelten eines Kindes bei aller Verschiedenheit auch versöhnende Elemente aufweisen, kann es sich als wertvoll und als ganzer Mensch fühlen.
Ich selbst bin Mutter von zwei erwachsenen Söhnen, einem leiblichen und einem Pflegesohn, der mit zwölf zu uns kam. Ich selbst habe als Pflegemutter, resultierend aus meiner persönlichen Lebensgeschichte und trotz Ausbildung als Psychologin und Therapeutin, viele Fehler gemacht. Erst in späteren Jahren haben mein Pflegesohn und ich einander respektieren, achten und lieben gelernt in all unserer Verschiedenheit. Die emotionalen, frühen Muster in uns allen sind nur schwer zu verändern, der Veränderungsprozeß verläuft langsam und mühselig, äußerst schmerzlich und braucht oft Jahre.
Dieses Buch wird auch Schmerz und Trauer anrühren. Das Zulassen dieser Trauer und das darauf folgende neue Fühlen und Denken kann der Beginn sein für ein zufriedenes, schöneres Zusammenleben mit Pflege- und Adoptivkindern.

Alle gewählten Familienbeispiele sind typisch für viele Familien. Ähnlichkeiten mit Ihnen bekannten Familien sind rein zufällig. Alle Beispiele wurden so verändert, dass der Schutz der persönlichen Daten gewährleistet ist, die psychologische Aussage jedoch erhalten blieb.
Alle Kapitel beginnen mit der Schilderung der Konfliktsituation, danach werden die für dieses Kind und seine beiden Familien spezifischen Ursachen sowie allgebeingültige Informationen zusammmengetragen. Dann werden mögliche Auswege aus den Konflikten aufgezeigt.
Jedes Kapitel hat einen anderen Schwerpunkt: Mal liegt die wesentliche Ursache für den Konflikt in der Kindheit der Eltern, mal in erster Linie in der Geschichte des aufgenommenen Kindes, mal in der Paarbeziehung der Erwachsenen, mal im Spannungsfeld zwischen leiblicher und Pflege- oder Adoptivfamilie. Doch es handelt sich fast nie um nur eine Ursache allein, sondern immer um das Zusammenwirken verschiedener Bedingungen auf seiten des Kindes, seiner Herkunft und der aufnehmenden Familie. So können Sie als Leser und Leserin Teile Ihrer eigenen Situation wiedererkennen und, wenn Sie wollen, die für Ihre Familie zutreffenden Bedingungen und Lösungswege herausfinden und komponieren.

Erklärung der Figuren


Holger
Bei Kerstin war das alles anders

Wie frühe Entbehrungen und Beziehungsabbrüche des angenommenen Kindes das Familienleben beeinflussen.

Herr und Frau Glaser und Tochter Kerstin waren drei zufriedene Menschen, die ein langes Stück Lebensweg miteinander gegangen waren. Alles wurde anders, als sie den achtjährigen Holger in ihre Familie aufnahmen. Die Idee, sich für ein älteres Kind zu bewerben, begeisterte Glasers. Kerstin, zur Zeit der Bewerbung elf, entwickelte sich gut. Die Eltern hatten Kerstin in ihre Entscheidung, noch ein Kind aufzunehmen, miteinbezogen. Auch Kerstin war neugierig, einen Bruder zu bekommen. Sie war bereit, ihre Eltern mit einem neuen Kind zu teilen. Glasers hätten auch noch ein eigenes Kind bekommen können, Frau Glaser war gerade 31, Herr Glaser 36. Doch sie wollten einem sozial verwaisten Kind ein Zuhause zu geben. Die Vermittlerin wies die Eltern mehrfach darauf hin, dass es nicht einfach sei, ein Kind aufzunehmen, das Schweres hinter sich hat, das zwangsläufig Verhaltensstörungen mitbringt. Doch Familie Glaser fühlte sich stark genug für die neue Aufgabe.
Holgers Mutter verließ Ehemann und Kind schon bald nach der Geburt. Sein Vater brachte das Baby zu Freunden, diese gaben es jedoch wieder in eine andere Familie. Erst als Holger zwei war, wurde das Jugendamt eingeschaltet. Dies vermittelte Holger in eine Pflegefamilie, die ihn fortgab, als er fünf war, da das Paar sich trennte. In der nächsten Pflegefamilie war er bereits so »verhaltensgestört«, dass diese ihn bis zur körperlichen Mißhandlung straften. Die Sozialarbeiterin konnte den Verbleib dort nicht mehr vertreten. So kam Holger mit sieben in ein Kinderheim. Dort wurde er noch so »beziehungsfähig« eingeschätzt, dass man ihm das Aufwachsen in einer Familie ermöglichen wollte. Auch Holger sehnte sich nach neuen Eltern. Wenn potentielle Eltern das Kinderheim besuchten, um ein Kind kennenzulernen, fragte er die Erzieher und Erzieherinnen, wann er endlich wieder in eine Familie käme.
Holgers Vater besuchte ihn gelegentlich. Er war froh über die Entlastung durch das Jugendamt und die Pflegefamilien, denn er hatte nicht die Kraft, für sein Kind selbst zu sorgen. Wenn Holger sich bei Glasers gut einleben würde, wäre er sogar bereit, das Kind zur Adoption freizugeben.

Szenen: Hilfsmittel zum Erkennen von Konflikten

In Seminaren mit Pflege- und Adoptiveltern arbeite ich mit Szenerollenspielen: Wir bauen die Lebenssituation eines Kindes mit Hilfe der Teilnehmer und Teilnehmerinnen als Szene auf. Auch die Rollen der Kinder werden von Erwachsenen dargestellt. Jedem Rollenspieler und jeder -spielerin wird ein bestimmter Platz im Raum zugewiesen. Alle nehmen eine bestimmte Körperhaltung ein und bekommen einen typischen Satz. Alles, was wir an Informationen über eine Familie, über ein Konfliktfeld haben, fließt ein: Die Art und Weise, wie die Menschen zueinander oder gegeneinander stehen, Nähe und Distanz. Das Sprechen der typischen Sätze macht die Problemstellung lebendiger als nur darüber zu reden. Es handelt sich nicht um Sätze, wie sie im Alltag miteinander gesprochen werden, sondern um symbolische Aussagen, die komprimiert wiedergeben, was an Erleben, Bedürfnissen, Spannungen in diesem Familiensystem bedeutend ist. Für Eltern, die ihre Lebensszene aufbauen, kommen in dieser Phase der Arbeit intensive psychische Prozesse in Gang, weil sie durch die Spiegelung in konzentrierter Form wahrnehmen, in welch schmerzlicher Situation sie sich befinden.

Die Krisensituation

In einem Elternseminar baute das Elternpaar Glaser seine eigene Lebenssituation auf, wie sie vor der Vermittlung war. Das Ehepaar steht nah beieinander. In der Mitte vor ihnen sitzt Kerstin.

Herr Glaser: Wir haben jung geheiratet und ich liebe meine Frau noch immer.
Frau Glaser: Ich bin glücklich und verstehe mich so gut mit Kerstin.
Kerstin: Mein Vater ist manchmal ein bißchen streng, trotzdem, ich habe tolle Eltern.

In einem zweiten Bild bauten Glasers die Familiensituation auf, ein Jahr nachdem sie Holger aufgenommen haben. Holger ist jetzt neun, Kerstin ist inzwischen zwölf Jahre:
Das Ehepaar steht auseinander. Holger, wie im Dreieck weit entfernt von beiden, etwas näher beim Pflegevater, seitlich von der Mutter Kerstin, nicht mehr so nah bei dieser. Ihnen gegenüber gibt es jetzt noch viele weitere Personen, die durch Holger dazugekommen sind.

Holger: Ihr seid meine dritte Station, in zwei Jahren wollt ihr mich bestimmt wieder los sein.
Pflegemutter: Ich komme nicht an ihn ran. Bei Kerstin war das alles anders.
Pflegevater (zu seiner Frau): Du gibst zuviel nach. Bei mir hört er.
Kerstin: Der macht Sachen, das durfte ich nie!
Oma: Der wird Kerstin verderben.
Lehrer: Holger hat heute ein behindertes Kind gebissen.
Vater: Eine bessere Familie wirst du nicht mehr finden, streng dich an.
Leerer Stuhl für die leibliche Mutter.
Frühere Pflegemutter: Mit Holger ist nichts mehr zu machen.
Sozialarbeiterin: Ich habe Ihnen gesagt, dass es mit Holger nicht leicht wird. Ich unterstütze Sie, wo immer ich kann.

Die Gefühle der Rollenspieler und -spielerinnen

In Seminaren lasse ich die Akteure und Akteurinnen die Sätze zunächst zweimal wiederholen, damit die Stimmung, die in diesem Spannungsfeld herrscht, in Ruhe aufgenommen werden kann. Dann berichten die Rollenspieler und -spielerinnen,  was sie fühlen. Diese Gefühle sind oft erstaunlich identisch mit den Gefühlen der echten Familie. Dies bestätigen immer wieder Eltern, die ihre eigene Lebenssituation einbringen. Da die Rollenspieler und -spielerinnen nicht so tief betroffen sind, wie die wirkliche Familie, können sie auch Gefühle, Konflikte, Stimmungen wiedergeben, die in der wirklichen Familie zwar vorhanden sind, von dieser aber oft noch nicht in der ganzen Tragweite wahrgenommen werden. Ich werde hier nur die Gefühle der »Hauptdarsteller und -darstellerinnen« wiedergeben, da es den Rahmen dieses Buches sprengen würde, alle Mitspieler und Mitspielerinnen zu Wort kommen zu lassen. In Seminaren nehmen wir uns oft die Zeit, alle Rollenspieler und -spielerinnen zu befragen.
Die Antworten der Rollenspieler und -spielerinnen lösten bei Glasers Betroffenheit und Tränen aus:

Holger: Ich bin das schwarze Schaf. Alle halten mich für schlecht. In mir steigt viel Wut hoch. Kein Wunder, dass ich immer wieder Neues anstellen muß. Ich könnte grad Feuer legen oder alles in die Luft jagen. Mein leiblicher Vater will nicht, dass ich bei ihm wohne. Die letzten Pflegeeltern geben mir die Alleinschuld, dass sie mich fortgegeben haben. Und die neue Familie ist auch schon hilflos, die habe ich auch schon bald fertiggemacht. Mir geht es ausgesprochen schlecht.
Kerstin: Holger macht ja die ganze Familie kaputt. Meine Mutter reibt sich auf. Die Eltern streiten sich. Ich fühle mich nicht mehr wohl. Dabei ging es mir vorher so toll, als der noch nicht da war.
Pflegemutter: Es ist genau wie bei uns. Bei meinem eigenen Kind lief das alles von selbst. Da brauchte ich kaum zu schimpfen. Bei meiner Pflegetochter kenne ich mich selbst nicht wieder, bin dauernd negativ. Aber wenn ichs im Guten versuche, erreiche ich nichts. Was hier dazukommt, ist die Kritik vom Partner. Das tut weh, dass er mein Verhalten in Frage stellt. Und dann noch Holgers Auffälligkeiten. Ein behindertes Kind verletzen, das ist etwas so Schlimmes. Wie soll ich ihn da noch mögen?
Pflegevater: Mir gefällt meine Rolle nicht. Ich finde es nicht gut, meiner Frau in den Rücken zu fallen. In der Rolle des strengen Vaters fühle ich mich nicht wohl.

Ein neues Familienmitglied – alle Beziehungen verändern sich

Wenn ein neues Kind in eine Familie kommt, dann verändern sich die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen Vater und Mutter, sogar zwischen Großeltern und Eltern. Wie bei einem Mobile, dem ein neues Teil eingebaut wird, muß ein neues Gleichgewicht gefunden werden. Dies ist so bei der Ankunft von leiblichen, aber erst recht bei fremden Kindern.
Die Beziehung zwischen Kerstin und ihrer Mutter ist plötzlich nicht mehr so innig. Die Mutter ist reizbar und nervös. Sie hat nicht mehr so viel Zeit und Kraft für sie. Kerstin wird unzufrieden mit ihren Eltern, sie fühlt sich zurückgesetzt.
So sind Glasers nicht nur wegen Holger, sondern auch wegen Kerstin enttäuscht. Zum ersten Mal im Leben haben sie mit Kerstin Konflikte. Sie zweifeln an »ihrem Kind«. War sie nicht voll an der Entscheidung beteiligt? Hatte sie nicht klar dazu gestanden, Holger aufzunehmen? Und jetzt handelt sie nicht danach. Die Eltern machen Kerstin Vorwürfe, auf die diese mit Trotz und Verletztheit reagiert.
Kerstin soll damit klarkommen, als Einzelkind nach elf Jahren die Eltern zu teilen. Natürlich hat Kerstin die Aufnahme Holgers gewollt. Doch konnte sie nicht vorhersehen, dass ihre Eltern bis an den Rand ihrer Kräfte beansprucht sein würden. Durch den neuen Spielgefährten hatte sie sich Freude erhofft. Nun gibt es nur noch Ärger und Spannung. Ihre Eltern erwarten Vernunft. Doch Kerstin will Kind sein. Sie ist wütend und eifersüchtig auf Holger. Er bringt ihr ganzes Weltbild durcheinander, was gut und böse ist, was erlaubt ist und was nicht. Holger ist jünger als sie und führt schon sein eigenes Leben. Sie ahnt, dass es auch für sie besser wäre, unabhängiger von ihren Eltern und deren Stimmungen zu sein. Doch davon ist sie weit entfernt.
Statt Solidarität gibt es plötzlich Konkurrenz zwischen den Eltern, was die »richtige Erziehung« Holgers ist, wer mehr daran Schuld hat, dass sich Holger nicht bessert. Frau Glaser fühlt sich von ihrem Mann zu Unrecht kritisiert. Statt miteinander an einem Strang zu ziehen, kämpft jeder allein.
Selbst die Oma, die mühsam erlernt hatte, angemessene Distanz zur Familie zu halten, rückt wieder näher. Sie stellt beunruhigende Prognosen. Auch ist Familie Glaser nicht mehr einfach eine Familie für sich. Plötzlich mischen sich verschiedene andere Menschen ein: Lehrer, Jugendamt, Nachbarn, Verwandte, Holgers Vater. Durch Holger lebt Familie Glaser in einem völlig neuen Beziehungsgeflecht. Etwas von Holgers früherem unruhigem, chaotischem Leben wirkt in die Familie hinein.
Die bisherige Glasersche Familienregel lautete: Wir sind gut, wir halten zueinander und fügen uns keinen Schmerz zu. Seit Holger da ist, tritt diese Familienregel zunehmend außer Kraft. Kerstin hält sich nicht mehr daran. Die Eltern streiten immer häufiger. Es ist, als ob eine von Holgers Überlebensregeln »sei mißtrauisch, Menschen fügen einander Schmerz zu« sich auch in der Familie Glaser bewahrheitet.

Die erste Zeit

In den ersten Wochen strengte sich Holger an, in der neuen Familie zu funktionieren. Zwar war er unkonzentriert, vergeßlich, schusselig, doch er war bemüht, seinen neuen Eltern und der neuen Schwester zu gefallen.
Jedes Kind, das neu in eine Familie kommt, ist in einer ersten Phase bemüht, sich in die neue Familie einzugliedern, eigene Erfahrungen und eigene Lebensregeln über Bord zu werfen und die der neuen Familie zu übernehmen. In Wirklichkeit überfordert sich das Kind. Es kann die Strategie der Überanpassung nicht durchhalten. Sein eigenes Verhalten kommt wieder durch. So begannen auch mit Holger die Schwierigkeiten erst nach einigen Monaten. Nach der ersten Phase des begeisterten Versuchs dazuzugehören, kommt eine zweite Phase, in der das Kind prüft, ob die neue Familie es auch noch mag, wenn es sein eigenes Ich zeigt. Jetzt neigen Pflegekinder zu Provokationen. Glasers reagierten in dieser Phase geduldig und liebevoll. Doch gerade dieses ernst gemeinte Beziehungsangebot konnte Holger nicht annehmen. Er testete, wo die Empfindlichkeiten der neuen Familie lagen, was sie am meisten ärgerte und aufregte. Er tat vor allem der Pflegemutter weh. Er versteckte ihren Schmuck, ihre Halstücher, ihr Parfüm. Manchmal kotete er heimlich ein, machte Kügelchen aus dem Kot und versteckte diese überall in der Wohnung.
Frau Glaser versuchte es immer wieder im Guten, mit Zureden. Umsonst. Holger reagierte nur auf Druck. Es war bisher ihr Anspruch, Erziehung im Einvernehmen mit dem Kind zu gestalten. Sie war für Kerstin bis dahin eine demokratische, großzügige, verständnisvolle Mutter. Nun erwischte sie sich ständig bei Verhaltensweisen, die sie selbst für häßlich und ablehnenswert hält.
Frau Glaser hatte mit Kerstin ein Verhältnis, das von Mitfühlen und Anteilnehmen geprägt war. Sie brauchte gegenüber Kerstin gar nicht erst heftig zu werden. Diese hat schon vorher die Bedürfnisse der Mutter erspürt. Zwischen Erwachsenen und Kindern, die schon lange zusammen gelebt haben, bilden sich unsichtbare Bande, selbstverständliches Aufeinandereingehen. Immer wieder versucht die Pflegemutter solch Bande herzustellen. Doch Holger fehlt dieses Verhaltensmuster. Holger tut viel, um das Beziehungsangebot der Pflegeeltern zu zerstören. Immer wieder teilt er Schmerz aus. Er hält sich Nähe und Vertrautsein vom Leibe. Die Pflegeeltern kommen nicht an ihn ran.

Holgers typische Verhaltensweisen

Holger reagiert völlig anders, als Glasers es kennen. Kann er nicht mitfühlen? Es kümmert ihn nicht, wenn jemand weint. Er lenkt in solchen Situationen ab. Er kennt nur sich selbst. Seine Triebbefriedigung steht vom Morgen bis zum Abend im Mittelpunkt seines Handelns.
Holger gibt beständig Widerworte, behauptet von vielem das Gegenteil. Wenn die Pflegeeltern das Gefühl haben, jetzt hat er etwas kapiert, so ist es am Tag darauf so, als ob alles nicht gewesen wäre. Holger scheint nicht aus Erfahrung zu lernen. Manchmal sieht es aus, als lebe er außerhalb der Wirklichkeit. Er behauptet Dinge, die ein Achtjähriger längst wissen müßte. Er deutet Erlebtes um und bringt damit die Pflegeeltern zur Verzweiflung. Für sie ist schwer, herauszufinden, ob er selbst an seine unsinnigen Behauptungen glaubt, oder ob er absichtlich provozieren will.
Wenn er Angst hat oder unsicher ist, kann er dies nicht zugeben, stattdessen gibt er an, protzt und prahlt. Lieblingsgegenstände der Familie, die er in die Hände nimmt, zerbrechen. Seine Schulsachen sind ständig zerfleddert, Stifte, Hefte oder ein Buch fehlen. Spielsachen gehen schnell kaputt oder verloren, oder er verschenkt sie. Zähneputzen will er nicht, die würden sowieso wieder dreckig. Auch auf seine Kleidung kann Holger nicht achten. Vieles vergißt er irgendwo. Gern zieht er Sachen von Kerstin an, ohne vorher gefragt zu haben. Auch mit seinem Taschengeld kann er nicht umgehen. Sobald er am Samstag seine fünf Mark in Händen hat, muß er sie ausgeben. Dann beschwert er sich, dass sein Geld alle ist, will neues Geld.
Er wird stinkig, wenn die Pflegeeltern nein sagen. Ganz gleich ob beim Geld, Essen, Fernsehen, in der Zeiteinteilung, Holger ist maßlos. In der ersten Zeit probierte Frau Glaser einmal aus, was geschieht, wenn sie Holger nicht bremst. In der Küche stand eine große Kiste mit ca. 30 Orangen. Holger fragte, ob er davon so viele essen dürfe, wie er wolle. Im Lauf eines einzigen Tages aß Holger alle auf.
Holger kann sich nie lange beschäftigen. Zuerst ist er von jedem Spielzeug hell begeistert, doch nach kurzer Zeit erlischt das Interesse. Er lebt ganz und gar situativ, kann und will nicht planen. Kurzfristiges Glück zählt. Er kann nichts auf später aufschieben. Er hat sogar Probleme im Umgang mit der Zeit und den Begriffen Morgen, Übermorgen, Gestern.
Wenn es einmal eine entspannte Phase gibt, so ist sie nur von kurzer Dauer. Holger inszeniert einen neuen Konflikt. Die gute Stimmung und damit die Hoffnung auf Besserung sind wieder dahin. Am schlimmsten ist für Glasers, dass er sich nicht offen mit gleich starken Kindern streitet, sondern immer Kleineren, Schwächeren weh tut. All ihre Appelle, ihre Diskussionen fruchten nicht. Auch seine Eifersucht auf Kerstin trägt er nicht offen aus. Er knickt heimlich Kerstins selbstgezüchtete Wicken ab, er leiht sich ihr Lieblingsquartett und bei der Rückgabe fehlen Karten. Zwar zeigt Holger häufig Reue, gelobt Besserung, wenn er ertappt worden ist. Doch dies hält er nicht durch. Jeder Tag kostet die Pflegeeltern ungeheuer viel Kraft. Holger hält die Familie in Atem.

Folgen früher Mängel und Verluste

Holger hat die Persönlichkeitsstruktur eines deprivierten Kindes, eines Kindes, das in seinen frühen Jahren schwere Enttäuschungen erlitten hat. Holger hat Verluste, Beziehungsabbrüche, körperliche Mißhandlungen hinter sich. Dies hat ihn so geprägt, dass er auf neue Beziehungsangebote destruktiv reagieren muß. So wie mit ihm einst umgegangen wurde, geht er jetzt mit Menschen und Sachen um.
Redl und Wineman schreiben in ihrem Buch »Kinder, die hassen«, ein Kind, das diese Struktur in ausgeprägter Form hat, sprenge jede Familie. Sie schlagen vor, solche Kinder in Einrichtungen unterzubringen, in denen sich die Bezugspersonen den Kindern professionell intensiv zuwenden.
Doch Holger ist kein Einzelfall. Immer wieder werden Kinder seiner Persönlichkeit in Pflege- und Adoptivfamilien vermittelt. Jedes vermittelte Kind, das nicht als kleinster Säugling in die neue Familie kommt, hat Anteile der deprivierten Persönlichkeit. Nach der Vermittlung von größeren Kindern kommt es manchmal zu regelrechten Familienkatastrophen, weil das Kind die Erwartungen nicht erfüllen kann. Weil die Eltern den deprivierten Teil der Persönlichkeit des Kindes nicht begreifen, weil sie verzweifelt sind und sich als Versager fühlen, können sie das Kind immer weniger akzeptieren. Hierauf reagiert das Kind mit vermehrten Verhaltensstörungen. Viele spätadoptierte Kinder kommen wieder ins Heim oder leben in Internaten, weil die neuen Eltern nicht mit ihnen zusammenleben konnten.
Es gibt auch deprivierte Familienkinder. Manchmal haben Kinder so viel Entbehrung zu ertragen, dass auch sie sich verschließen, sich vor Nähe und Kontakt in Acht nehmen müssen.

Liebe allein genügt nicht

Damit aufnehmenden Familien das Zusammenleben mit solch schwierigen Kindern gelingt, ist es wichtig, die Entstehung dieses Verhaltens zu kennen und zu begreifen.
Schon während der Schwangerschaft, der Geburt und im ersten Lebensjahr bilden sich bei jedem Menschen Urvertrauen oder Urmißtrauen in die Welt und zu Menschen. Bereits mit sechs bis sieben Monaten legt sich ein Kind auf seine Bezugspersonen fest. Trennungen nach dieser ersten Bindung lösen beim Kind Urangst und Trauer aus. Dennoch ist ein junges Kind nach dem ersten Verlust wieder bereit, noch einmal Bindung zu übertragen. Zwar bleibt es geprägt von dieser ersten Erfahrung des Verlassenseins, fühlt sich dadurch minderwertig und schuldig. Und jedes neue Einlassen ist weniger tief. Wenn diese neuen Menschen dann allerdings wieder verloren gehen, muß ein kleiner Mensch sich davor schützen, sich erneut abhängig zu machen. Ein weiterer Verlust wäre nicht mehr aushaltbar. Er wird vermieden, indem Bindung vermieden wird.
Wir wissen aus der Hospitalismusforschung seit Rene Spitz, was für entsetzliche Folgen zu erwarten sind für ein Kind, das früh mehrfach verlassen wurde oder wegen wechselnder Bezugspersonen im Heim nie eine Bindung aufbauen konnte. Kinder ziehen sich auf sich selbst zurück, sie spüren sich selbst nur noch im Schaukeln, bei stereotypen Bewegungen. Viele reißen sich die Haare aus, schlagen den Kopf gegen eine Wand, um überhaupt noch etwas zu fühlen. Nicht nur die Fähigkeit, Nähe zu anderen aufzubauen, erlischt, auch die Fähigkeit, zu sich selbst Kontakt zu haben. Gefühle von Wertlosigkeit prägen ein solches Kind. Diese Kinder müssen einen für sie überlebensnotwendigen Egoismus, eine spezielle Form von Unabhängigkeit entwickeln. Sie haben Verhaltensstrategien, um Zuwendung zu bekommen, ohne sich mit den entsprechenden Menschen einzulassen. Dies kann negative Zuwendung sein, durch Stehlen, Weglaufen, Provozieren usw. Aber es gibt auch Kinder, die zum Sonnenschein werden. Sie kennen keine Distanz, sie suchen zu allen Menschen gleiche Nähe, um Zuwendung zu ergattern. Mit Bindung oder Bezogensein auf bestimmte Menschen, hat dieses Verhalten nichts zu tun.
Andere Kinder, die noch schlimmere Verluste erfahren haben, können auch diese Strategie nicht mehr entwickeln. Sie bleiben in ihrer seelischen und geistigen Entwicklung zurück, da sie das Vertrauen in sich und die Welt verloren haben. Es gibt für sie keinerlei Anreiz mehr, sich zu entwickeln, groß zu werden, leben zu wollen. Viele Kinder sind geprägt aus einer Mischung verschiedener Tendenzen: Unabhängigsein, Mißtrauen gegen Kontakte und Unselbständigbleiben, sich hilflos und minderwertig fühlen. Sie wehren sich gegen Nähe, auch indem sie unerbittlich »gefühllos« und verletzend sind. Was ihnen zugefügt wurde an seelischem Schmerz, geben sie in unterschiedlicher Weise weiter, fügen sie anderen zu.
Das alles ist psychologisches Allgemeinwissen geworden. Dennoch ist der Glaube bei Eltern und Fachleuten weit verbreitet: Wenn die »richtigen Pflegeeltern das Kind intensiv lieben«, dann wird alles gut. Genau diese Hoffnungen führen dazu, dass Enttäuschung vorprogrammiert ist. Denn je nach Häufigkeit der frühen Verluste, je nach Tiefe des Urmißtrauens, kann sich ein Kind nicht auf das Liebesangebot einlassen, es muß es radikal bekämpfen.

Deprivierte Erwachsene

Aus deprivierten, in ihrem Gefühlsleben deformierten Kindern werden häufig jene Erwachsene, auf die Pflege- und Adoptiveltern Wut haben; jene Erwachsene, denen das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen wird. Da sie selbst als Kinder unterversorgt waren, können sie weder ausreichend für sich selbst noch für ihre Kinder sorgen. Als Folge ihrer Minderwertigkeitsgefühle, ihrer Selbstablehnung können sie ihr Erwachsenenleben kaum oder gar nicht organisieren. Sie werden straffällig oder landen in der Psychiatrie. Oder sie werden alkoholabhängig, machen Schulden, können ihre Wohnung nicht halten, verelenden, bekommen einen miesen Platz in der Gesellschaft.
Zwar gibt es auch in der gehobenen sozialen Schicht Beziehungsunfähigkeit, Mißbrauch und psychische Gewalt an Kindern. Doch hier gibt es mehr Möglichkeiten, defektes Beziehungsverhalten zu verbergen. Sie haben die besseren Rechtsanwälte, Sanatorien, Internate, teure Therapeuten. Jugendämter, Kinderschutzbund und Polizei bleiben meist »vor der Tür«. So kommen die auffällig gewordenen Menschen in der Regel nicht aus der gehobenen sozialen Schicht. Es handelt sich um Menschen, die im sozialen Gefüge seit Generationen unten waren. Der Umgang unserer Gesellschaft mit ihnen verschärft ihre Lage durch Diskriminierung, Ächtung, Ausgrenzung. Die geringe Hilfe, die Sozialhilfe bietet, wird ihnen von vielen nicht gegönnt. »Sie liegen uns auf der Tasche« sagen jene, die psychisch und materiell und an sozialem Erfolg vermögender sind. Durch deformierende Startbedingungen sind die wenigsten imstande, aus eigener Kraft »hochzukommen«. Die Gesellschaft gibt ihnen erst recht keine Chance.
Mit der Inpflegegabe von Holger in Familie Glaser kommt nicht nur ein Kind mit psychischen Defiziten in eine neue Familie. Es prallen zwei soziale Schichten aufeinander. Hier das psychisch und ökonomisch gutsituierte Mittelschichtsmilieu der Familie Glaser, dort die Welt der Armut, der Ausgrenzung.

Mögliche Auswege aus dem Konflikt

Herausnahme?

Wegzugehen aus seiner jetzigen Pflegefamilie hätte für Holger schwerwiegende Folgen. Durch einen weiteren Bruch, ausgelöst durch ihm zugeschriebenes Fehlverhalten, bekäme Holger ein so negatives Selbstbild, dass jeder weitere Versuch in einer Familie scheitern würde. Dann müßte er mit seinen neun Jahren in einer Einrichtung leben. Zurück blieben bei Holger, aber auch bei Glasers, Gefühle von Versagthaben, von Minderwertigkeit und Schuld. Die Trennung von Pflegekindern und Pflegeeltern ist legitim, wenn die Pflegeeltern gar keinen Ausweg mehr sehen. Dann haben alle Beteiligten keine andere Wahl, als mit dem Mißerfolg und dem Schmerz zu leben. Familie Glaser denkt jedoch nicht an Trennung. Zu beschämend, wenn Holgers Vorhersage »In zwei Jahren wollt ihr mich bestimmt wieder los sein« in Erfüllung ginge. Noch sind Glasers mitten im tagtäglichen Kampf, Holger verändern zu wollen.

Kindertherapie für Holger?

Viele Pflegeeltern und Fachleute hoffen, ein so »geschädigtes« Kind könne seine schwere Geschichte in einer Kindertherapie »aufarbeiten«. Doch es gibt Erfahrungen im menschlichen Leben, die so schmerzlich sind, dass das Wort »aufarbeiten« fehl am Platz ist. Holgers schwere Verluste lassen Spuren zurück, die lebenslang wirken. Eine von Holgers Überlebensregeln heißt: «Keine Beziehung mehr eingehen, damit kein Verlust mehr geschieht.« Es wäre Illusion, zu glauben, eine solch festsitzende Lebensregel könne durch eine Kindertherapie außer Kraft gesetzt werden.
Wenn Kinder zu liebevollen Therapeuten oder Therapeutinnen gehen, bei denen sie Akzeptanz, Deutungen für ihr Fühlen und Verhalten und Wärme erhält, so kann dies Bereicherung sein. Doch das Grundproblem kann nicht gelöst werden. Zudem könnte ein umgekehrter Effekt eintreten. Die Familie könnte unter Druck geraten. Sie wird sich fragen: »Wenn es dem Therapeuen oder der Therapeutin möglich ist, Holger zu akzeptieren, wie er ist, sind wir nicht doch die eigentlichen Versager?« Eine Kindertherapie allein wäre also kein Ausweg. Glasers haben durch das tägliche Zusammenleben den stärksten Einfluß auf Holger. Sinnvoll ist intensive Eltern- oder Familienberatung oder die regelmäßige Bearbeitung ihrer Sorgen in der Pflegeelterngruppe.

Leben lernen mit einem deprivierten Kind

Um das Zusammenleben mit einem Kind, das so viel Mißtrauen, Zerstörung und Unruhe in eine Familie trägt, zu lernen, bedarf es umfassender Einstellungs- und Verhaltensänderungen in der aufnehmenden Familie. Zahlreiche Familien- und Lebensregeln sind umzugestalten, obwohl das sehr schwer ist.
Pflegeelternsein heißt, sich zu verabschieden von vielen zwischenmenschlichen Regeln, wie sie bei gewachsenen Eltern-Kind-Beziehungen üblich sind.

Für Holger ist »Bösesein« normal und richtig

Für Bezugspersonen eines deprivierten Kindes ist wichtig, die eigene Wertewelt von Gut und Böse zu relativieren. Das Kind bringt eine andere Wertewelt mit. Für Holger ist normal, anderen Schmerz zuzufügen, weil ihm so viel Schmerz zugefügt wurde.

Holger braucht Wertschätzung, obwohl er sich »falsch« verhält

Wir alle haben gelernt, unsere Liebe und Wertschätzung an Bedingungen zu knüpfen. Wir sind verletzbar, enttäuschbar und lieben den Menschen nicht einfach weiter, der uns weh getan hat. Diese Regel sollte bei einem deprivierten Kind außer Kraft gesetzt werden. Denn Holger verletzt, um einsam zu bleiben, um sich gegen Nähe und Vertrauen zu wehren. Er ist »böse«, um nicht geliebt zu werden. Um auf Holger langfristig verändernd einzuwirken, gilt es, die Kluft zu ertragen, die er durch sein verletzendes Verhalten immer wieder neu schafft. Es gilt, die Pfeile, die er schießt, abprallen zu lassen. Das heißt, ihn als Mensch wertzuschätzen, unabhängig davon, ob gerade »böse« ist oder nicht. Ich weiß, wie schwer das ist.
Zugleich ist auf der Verhaltensebene immer wieder neu um Veränderung zu kämpfen. Holger braucht klare Regeln, Kontrollen und eindeutige Anforderungen. Die Normen, die er noch nicht verinnerlicht hat, gilt es, ihm als Raster von außen zu geben. Dazu gehören auch Konsequenzen und Strafen. Wenn er Kerstin etwas kaputtmacht, muß er für Ersatz sorgen. Wenn er einem behinderten Kind weh tut, ist mit ihm darüber zu sprechen, dass er dies wohl nötig hat, weil er selbst sich so oft schwach und unterlegen fühlt, und es ist mit ihm zu überlegen, welche Folgen sich für ihn daraus ergeben, z.B. dass er dem Kind ein Geschenk von seinem Taschengeld kaufen muß. Oder ein schönes bevorstehendes Ereignis entfällt, um den Ärger der Eltern zu unterstreichen. Zugleich gilt es, Holger zu zeigen, dass die Pflegeeltern ihn unabhängig von den schlimmen Verhaltensweisen annehmen, mit ihm gemeinsam um anderes Verhalten ringen und dass sie nicht aus dem Konzept geraten.
Trotz des Engagements, der Appelle, der Strafen wird Holger wieder etwas Schlimmes tun. Es gilt, am selben Strang weiterzuziehen, dieselben Worte, Handlungen, Konsequenzen zu zeigen. Und einen langen Atem zu haben.

Vorschuß an Akzeptanz und Zuneigung

Ein Kind, das durch die vielen Verluste geprägt ist und durch sein Verhalten neue Verluste herausfordert, benötigt über viele Jahre Vorschuß an Zuneigung, das Risiko inbegriffen, dass nur wenig zurückkommt. Wenn aufnehmende Eltern diesen Vorschuß nicht geben können, wiederholt sich in seinem Leben, was es schon mehrfach erfahren hat: Ablehnung, Wechselbäder, keine Kontinuität. Die Pflegeeltern geraten in den Teufelskreis, der die Überlebensregel des Kindes bestätigt: »Mißtraue allen, auf Menschen ist kein Verlaß.«

Geben und Zurückbekommen verläuft ungleichzeitig

Pflegeeltern nehmen in der Regel gerade ein Kind auf, weil sie einem Kind etwas geben wollen. Doch unbewußt ist dieses Geben bei allen Menschen gekoppelt mit Zurückbekommenwollen. Alle Eltern wollen von ihren Kindern auch beziehen: Einander Verstehen, Bestätigung, Nähe. Damit sie mit Holger zurecht kommen, gilt es, diese zentrale Regel im Zusammenleben zwischen Erwachsenen und Kindern außer Kraft setzen. Das heißt, sich von dem Teil der gewohnten Elternrolle zu verabschieden, der auf dem Kreislauf von beständigem Geben und Zurückbekommen basiert. Das bedeutet, zu Holger zu halten, obwohl er Mitgefühl verweigert, obwohl über Jahre wenig zurückkommt. Oft kommt das Ersehnte zu einer anderen Zeit und in ganz anderer Weise zurück, als es beim eigenen Kind die Regel war, oder dann, wenn dieses Kind längst erwachsen ist.

Was selbstverständlich erscheint, ist oft schon Erfolg

Manchmal ist der Erfolg schon da und wird nicht erkannt. So ist auf die Leistung der Pflegeeltern zurückzuführen, dass Holger nie die Schule schwänzt. Doch da dieses Verhalten in ihrer Wertewelt selbstverständlich ist, können sie es nicht als Verdienst ihrer und Holgers Bemühungen buchen.
Es wird ein Erfolg sein, wenn Holger mit 14 oder 15 Kleineren oder Schwächeren keinen Schmerz mehr zufügen muß. Das Ausbleiben kurzfristiger Erfolge darf von den Pflegeeltern nicht als ihr persönliches Versagen ausgelegt werden. Ihr seelischer Haushalt sollte sehr langfristig ausgerichtet sein, bis hinein in die Erwachsenenzeit des Kindes.

Selbstverwirklichung nicht über Holger

Pflegeeltern dürfen das »Normalste« der Welt nicht mehr tun: Sich nämlich über Kinder verwirklichen wollen. Das heißt, sich von den eigenen Sehnsüchten und Ansprüchen zu verabschieden, was sie aus diesem Kind machen wollten und damit aus sich selbst. Es gilt, sich von der Vorstellung zu lösen, wie ein Kind sein soll und die Eigenheiten von Holger als Teil seiner Persönlichkeit anzunehmen.

Anerkennung der Autonomie

Wichtig ist, zu begreifen, dass dieses Kind die Grundstruktur seiner Persönlichkeit behalten wird. Holger wird autonom bleiben, sich nur begrenzt binden, Eigenleben führen. Zugleich aber bleibt er bei Kritik seiner Person hochempfindlich. Es wird immer leicht sein, sein Minderwertigkeitsgefühl zu verschlimmern und schwer sein, gleichbleibenden Kontakt zu ihm zu behalten.
Pflege- und Adoptiveltern eines deprivierten Kindes haben es zu tun mit einer abgegrenzten, nicht so tief mit ihnen vernetzten Persönlichkeit, die nicht ihnen zuliebe ihr Verhalten einfach ändern kann. Zugleich ist das Aufrechterhalten des Beziehungsangebotes zentral für dieses Kind. Denn nur dann macht es langfristig eine positive Gegenerfahrung.

Neudefinition von Elternsein: Mehr Autonomie für alle Familienmitglieder

Um die Autonomie von Holger zu verkraften, bedarf es der Autonomie auch der elterlichen Bezugspersonen. Pflege- und Adoptiveltern können nicht so viel Versäumtes über die Kinder nachholen, haben stärker aus sich selbst zu leben. Beide Kinder sollten vom Auftrag, ihre Eltern glücklich zu machen, entbunden werden. Statt großer Nähe, Verwobenheit und Harmonie, ist die neue Lebensregel einzuüben: mehr Eigenleben für jedes Familienmitglied.
Auch Kerstin geht es besser, wenn ihre Eltern sich verselbständigen, wenn sie nicht mehr in der inneren Verpflichtung lebt, für ihre Eltern liebevoll und perfekt zu funktionieren. Kerstin ist entlastet, wenn sie mehr Unabhängigkeit von ihren Eltern entwickeln darf. Neben dem Füreinanderdasein, um das auch bei Holger weiterhin gekämpft werden muß, darf jedes Familienmitglied ein eigenständiger Mensch sein.
Damit dies gelingt, bedarf es anderer Kraftquellen. Das kann die Rückbesinnung auf die Paarbeziehung sein. Immer wenn Paare viel voneinander bekommen, sind die Kinder entlastet. Dann haben Kinder mehr Chancen, sich zu eigenständigen Persönlichkeiten zu entwickeln. Doch es können auch andere Lebensinhalte neben der Paarbeziehung sein: Produktivität, Interessen, Aktivitäten, Hobbys, Beziehungen zu anderen Erwachsenen, neue Aufgaben, neue Ziele, die eben nicht auf das Kind gerichtet sind.
Erst wenn die Erwachsenen Kraft aus anderen Quellen beziehen, wenn sie den eigenen Selbstwert nicht mehr über das Kind bestimmen, gelingt es ihnen, nicht mehr so verletzbar zu sein und eine tragfähige Beziehung zum Pflegekind aufzubauen. Kinder können sich mit selbständigen, freien Eltern besser identifizieren, als wenn sie diesen Eltern »alles« sein müssen. Und Eltern, die anderswoher Kraft holen, haben mehr Kraft für die Kinder.

Die veränderte Szene

In Elternseminaren bauen wir die Szenen so lange um, bis ein befriedigender Ausweg gefunden wird. Die meisten Rollenspieler und -spielerinnen bekommen neue Sätze.
Die Eltern stehen wieder nah beieinander. In ihrer Nähe, jedoch mit größerem Abstand als zuvor steht Kerstin, ein wenig entfernter von diesem inneren Kreis steht Holger, außen herum wieder sein Vater, der Lehrer, die Oma usw. Holger bleibt abgegrenzte eigene Persönlichkeit, deshalb steht er nicht ganz so dicht in der Pflegefamilie, aber dicht genug, um mit Zuneigung und Akzeptanz versorgt zu werden.

Frühere Pflegemutter: Mit Holger, da ist nichts mehr zu machen.
Leerer Stuhl für leibliche Mutter.
Holger: Ich bin und bleibe anders, als ihr es seid.
Pflegemutter: Dein schwieriges Verhalten bringt mich nicht aus dem Konzept, ich halte zu dir.
Lehrer: Holger hat wieder dem behinderten Kind weh getan.
Pflegevater (zum Lehrer): Holger gibt noch weiter, was ihm zugefügt wurde. Wir brauchen Ihre Geduld, damit er so etwas bald nicht mehr nötig hat.
Kerstin: Es dreht sich nicht mehr alles nur um Holger. Meine Eltern haben auch wieder Kraft.
Leiblicher Vater: Ich bin zufrieden, dass die Pflegeeltern sich gut um dich kümmern.
Oma: Da habt ihr euch ganz schön was vorgenommen, nun, ich mische mich jetzt nicht mehr ein.
Sozialarbeiterin: Ich finde gut, dass Sie sich von Holger nicht mehr auseinanderdividieren lassen.



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